Publikationen - Leseprobe  
     
 
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  Die Wunderwelt, durch die ich schwebte – Literarische Träume
(mit Dieter Bandhauer)
     
    2011: Wien, Sonderzahl      
           
    200 Seiten      
    € 18,00      
           
           
               
 
     
   
 

Die Realität(en) des Traums
Nachwort

„Eines Nachts träumte mir, ich hätte einen Pakt mit dem Teufel um meine Seele geschlossen. Alles ging nach meinem Kommando, mein neuer Diener erkannte im Voraus all meine Wünsche. Da kam mir der Gedanke, ihm meine Fiedel zu überlassen, um zu sehen, was er damit anfangen würde. Wie groß war mein Erstaunen, als ich ihn mit vollendetem Geschick eine Sonate von derart erlesener Schönheit spielen hörte, dass meine kühnsten Erwartungen übertroffen wurden. Ich war verzückt, hingerissen und bezaubert; mir stockte der Atem, und ich erwachte. Dann griff ich zu meiner Violine und versuchte die Klänge nachzuvollziehen. Doch vergebens. Das Stück, das ich daraufhin geschrieben habe, mag das Beste sein, das ich je komponiert habe, doch es bleibt weit hinter dem zurück, was ich im Traum gehört habe.“
Der Legende nach hat Giuseppe Tartini (1692–1770) die Teufelstriller-Sonate geträumt. Ob die Geschichte wahr ist, die geträumte Version besser war als die aufgezeichnete, spielt keine Rolle, wesentlich ist vielmehr, dass es so gewesen sein könnte und dass ein Traum bei der Entstehung dieses Werkes eine zentrale Funktion innegehabt hat.

Die Vermutung liegt nahe, dass unzählige Kunstwerke von Träumen inspiriert wurden: Franz Kafkas Romane Der Prozeß und Das Schloß, Alfred Kubins einziger Roman Die andere Seite, Jean Paul muss erwähnt werden, die Erzählungen von Edgar Allan Poe, die Geschichten von E.T.A. Hoffmann, die Alice im Wunderland von Lewis Carroll, die surrealistischen Filme von Luis Buñuel, Das goldene Zeitalter (1930), und insbesondere der Kurzfilm Ein andalusischer Hund (1929), gemeinsam mit Salvador Dalí realisiert. Die beiden erzählten einander ihre Träume und beschlossen, daraus einen Film zu machen. Auch Ingmar Bergman hat offensichtlich Träume in seine Filme einfließen lassen.

Kopf oder Adler
Manche Autoren geben zu, dass sie Traummaterial verarbeitet haben, andere halten damit hinter dem Berg. Häufig sind Träume nahtlos in ein Werk eingearbeitet. Wir als Leser und Leserinnen, als Zuseher und Zuseherinnen können uns auf das Detektivspiel einlassen, um herauszufinden, wo und wie Träume umgesetzt wurden. Denn Träume folgen bestimmten Strukturen, verschieben Zeit und Raum, Personen und Orte, Konturen verschwimmen, oft enden sie abrupt und bieten meistens keine „Lösung“ an. Ein geübter Träumer, der „Trauminhalte“ künstlerisch gestaltet, vermag sich sowohl in die „Traumsprache“ einfühlen als auch im wachen Zustand Träume „erfinden“. Phantasie und Träume sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Die Grenze zwischen Traum und Wachsein verläuft fließend. Beständig durchqueren sowohl Wunschträume als auch Albträume unser Denken. Mal liegt die eine Seite der Medaille obenauf, dann wieder die andere: Kopf oder Adler – head or tail.

Tag oder Nacht
„Wieso wissen wir, daß wir träumen? Wissen wir es wirklich?“, fragt Barbara Frischmuth rhetorisch und beantwortet ihre Frage mit: „Im allgemeinen wissen wir es erst, wenn wir geträumt haben.“ Henri Michaux sieht sich selbst in eine Tag- und eine Nachtperson gespalten, oftmals geraten die beiden Personen in Streit miteinander. Michaux fügt seinen Träumen in Zwischen Tag und Traum eigene Kommentare hinzu, räumt allerdings ein: „Die Möglichkeiten, Träume zu deuten, sind unbegrenzt. Was für ein Dechiffrierungssystem man auch anwendet, es antwortet immer und scheint sich so einzurichten, daß es immer im Sinne der Frage antwortet.“

Apodiktisch und überaus treffend stellt Andreas Okopenko fest: „Träume zählen für mich zur anfaßbaren Realität. So bin ich als Traumberichterstatter nicht anders Realist als in meinen Protokollen der Lyrik und Prosa, in denen ich ganz gegenstandnah und spezifisch hinüberbringen will, was ich gesehen, gerochen etc habe, was mich so stark berührt hat, daß ich davon schreiben zu müssen glaube.“ Der Traum bietet Stoffe für Einfälle, birgt Inspirationen in sich. Ob sie einem Autor im Wachzustand oder im Traum zugefallen sind, bleibt künstlerisch ohne Belang.

In seinem Plädoyer eines Irren äußerte sich August Strindberg: „Als ich am nächsten Morgen aufwachte, erstaunte es mich nicht, das Zimmer von strahlender Sonne erhellt zu sehen, denn ich hatte nachts sehr deutlich und farbenfroh geträumt. Ich träumte, also bin ich, dachte ich und begann, meinen Körper zu fühlen, um zu erkunden, wie weit das Fieber fortgeschritten war oder um die ersten Spuren von Fieber zu entdecken. Aber ungeachtet meiner besten Absichten, einen unheilvollen Ausgang zu akzeptieren, fand ich meinen Zustand weitgehend normal. Ich hatte einen schweren Kopf, der jedoch ungehindert funktionierte, wenn auch nicht so fieberhaft wie zuvor, und zwölf Stunden Schlaf hatten mir die Lebenskräfte zurückgegeben, über die ich übrigens immer verfüge, da ich seit meiner Jugendzeit häufig Leibesübungen aller Art mache.“ Beispiele, bei denen Träume eine zentrale Funktion innehaben, lassen sich schier endlos fortsetzen.

Detlev von Liliencron erwähnt, in einem Traum Musik gehört zu haben. „Und da – da – hörte ich deutlich eine herrliche Musik.“ Die Noten dieser Musik hat der Dichter jedoch nicht festgehalten, diese „Traumarbeit“ war Giuseppe Tartini vorbehalten.

Schatten oder Weissagung
Seit jeher begleiten Träume die Menschheit, Petronius dichtete bereits vor fast 2000 Jahren: „Träume, die narren den Geist des Menschen mit flüchtigen Schatten.“ Jeder Mensch, der seine Träume nach dem Erwachen notiert, ist mit der Tatsache sowohl vertraut als auch konfrontiert, dass selbst bei sofortiger Aufzeichnung Teile des Traums sogleich wieder in Vergessenheit geraten sind. Damit lässt sich gestalten. Der Herausgeber einer Kulturzeitschrift entgegnete mir vor vielen Jahren, als ich ihm „Traumtexte“ zum Abdruck anbot: „Wen interessieren schon deine Träume? Niemanden.“ – „Ist es für dich von Belang, ob ich meine Einfälle geträumt habe oder ob sie meiner Vorstellungskraft im Wachen zugeordnet werden können?“ Nach diesem Erlebnis habe ich beharrlich verschwiegen, wenn die Anregung zu einer Prosa einem Traum als Initialzündung zu verdanken war. Um es mit den Worten Heraklits zu sagen: „Die Wachen haben alle eine einzige gemeinsame Welt, im Schlaf wendet sich jeder der eigenen zu.“
Stimmt natürlich nur bedingt oder mit Einschränkungen, denn Erfahrungswelten unterscheiden sich fundamental voneinander: historisch, kulturell, sozial … Niemand träumte von einer Rakete, einem Flugzeug, einem Handy, als diese Dinge, Objekte und Gegenstände noch nicht erfunden waren. Manche Begriffe verschwinden aus dem Sprachgebrauch, verlieren ihre Konnotation, andere kommen hinzu. Wenn Freud in seiner Traumdeutung Zimmer mit „Frauen-Zimmer“ gleichsetzt, stellt sich heute die Frage, ob dieser Zusammenhang noch gegeben ist, denn Zimmer können gleichermaßen Eingeschlossenheit wie Geborgenheit symbolisieren. Zimmertüren sind meiner Meinung nach nicht stringent mit Körperöffnungen in Verbindung zu setzen, sondern suggerieren ebenso den Wunsch nach einem Neubeginn, nach einer Veränderung, nach neuen Pforten der Wahrnehmung, etwa im Sinne von Aldous Huxley. Die Lebensumstände jedes Menschen sowie seine Sprachgewohnheiten fungieren als Hintergrund in jedem Traum. Kein Europäer träumt, dass er mit Yen bezahlt hat, es sei denn, er hat China bereist oder das Buch eines chinesischen Autors gelesen. Man träumt, was man kennt, erlebt und erfahren hat. Während der Arbeit an dem vorliegenden Buch überlegte ich träumend mehrmals, in welches Kapitel wir den soeben von mir geträumten Traum einfügen sollten, wohin und zu welcher Kategorie er am besten passen würde.

 „In der Nacht vom Ostersonntag 1792 auf den Ostermontag (vom 8. auf den 9. April) träumte mir, ich sollte lebendig verbrannt werden. Ich war sehr ruhig dabei, welches mich beim Erwachen nicht freute. So etwas kann Erschlaffung sein. Ich räsonierte ganz ruhig über die Zeit, die es dauern würde. ,Vorher bin ich noch nicht verbrannt, und nachher bin ich es.‘ Das war fast alles, was ich dachte und bloß dachte. Diese Zeit liegt zwischen sehr engen Grenzen. Ich fürchte fast, es wird bei mir alles zu Gedanken, und das Gefühl verliert sich.“ Dies träumte Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), gewiss keiner, dem Realitätsferne nachgesagt werden kann.

Den Inhalten eines Traumes auf die Spur zu kommen, war allemal ein Bestreben, jedoch im Allgemeinen – trotz Freud – ein vergeblicher, zum Scheitern verurteilter Versuch. (Sieht man davon ab, dass ein König oder Feldherr aufgrund eines Traumes einen Krieg vom Zaum brach, völlig einerlei, ob er nun siegreich heimkehrte oder geschlagen die Traumdeutung als Irrtum erkennen musste. Die „Traumdeutung“ war in diesem Fall eine politische beziehungsweise militärische Entscheidung.)

In der Antike wurde den Träumen einerseits göttliche sowie andererseits dämonische Aussagekraft zugeschrieben. Man glaubte, dass den Menschen über diesen Umweg eine Botschaft übermittelt wird oder er in Versuchung geführt werden soll, sein Tun dem Traum entsprechend unterzuordnen. „Im Mittelalter wurden gemäß des christlichen Ordnungsschemas Träume als Ausdruck teuflischer Kräfte verdammt, und dem rationalen Interesse der Aufklärung galten sie schlicht als Unvernunft und wurden daher mit Desinteresse bestraft. Erst in der Romantik wird das literarische Potential des Träumens erkannt und so weit intensiviert, dass es, wie für Novalis, nicht mehr eindeutig oder gar unwichtig war, ob man träumend wache oder wachend träume.“ (Martin Grzimek im „Deutschlandradio“, 18.11.2002)

In der Bibel soll Gott den Menschen Anweisungen gegeben, Vorhersagen und Versprechen übermittelt haben. Propheten hatten Visionen, also Träume, wodurch sie sich imstande fühlten, die Zukunft vorherzusagen. Josef deutete im Alten Testament den Traum des Pharao. Der Traum galt als „heißer Draht“ zu Gott persönlich.

Körpersäfte und Gehirn
Was aber ist nun eigentlich der Traum? – „Nach neuesten neurobiologischen Theorien wird die Traumtätigkeit auf informationstechnische Prozesse des Gehirns zurückgeführt, die an die digitale Verarbeitung von Daten im Speicher eines Computers erinnern. Reizimpulse, chaotisch zusammengeführte Wahrnehmungssignale und Gedächtnisreste im Netzwerk des Nervengefüges in der Gehirnrinde. Bei einem solch nüchternen Vokabular zur Beschreibung dessen, was geschieht, wenn wir träumen, bleiben alle uns eingeprägten Metaphern, was ein Traum sei, auf der Strecke. Der Traum als Spiegel oder Schatten der Seele, als blendendes Trugbild oder leeres Gaukelwerk der Imagination, der dämonische und prophetische Traum, das Leben als Traum und der Traum als Leben, der erotische Wunschtraum und der angstbesetzte Alptraum, der Tagtraum und die Nachtvision – das alles sind Umschreibungen und Stichworte zu einem Phänomen, das wir selbst erleben oder in der reichhaltigen Literatur seit der Antike nachlesen können.“ (Martin Grzimek im „Deutschlandradio“, 18.11.2002)

Nicht geleugnet werden kann, dass es ein Albtraum ist, sich darauf einzulassen, Träume in der Literatur zu sammeln. Irgendwo habe ich gelesen: „Beim Traum muss der Zorn, die Wahrnehmungskraft, zur Geltung kommen.“

Die im 16. Jahrhundert entworfene Typenlehre des Traums geht von der Vorstellung aus, Träume würden von Körpersäften ausgelöst, die in unterschiedlicher Geschwindigkeit zirkulieren. Danach unterscheidet Philipp Melanchthon vier Arten von Träumen, die er den menschlichen Temperamenten zuordnet: „Choleriker träumen von Feuer und großen Brünsten; Melancholiker von dunklen Orten und Einöden, wo sie schreckliche Gespenste sehen; Phlegmatiker von Wasser, Schifffahrten und Lebenssituationen, in denen sie gleichsam gefangen und gehindert seien; Sanguiniker von fröhlichen Mahlzeiten, schönen Tänzen und dergleichen Dingen, die zur Freude und weltlichen Wollust dienen.“ (Peter-André Alt, Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit)

Eine andere Sprache spricht da unsere aufgeklärte Zeit: „Die einzelnen Stücke dieses komplizierten Gebildes stehen natürlich in den mannigfaltigsten logischen Relationen zueinander. Sie bilden Vorder- und Hintergrund, Abschweifungen und Erläuterungen, Bedingungen, Beweisgänge und Einsprüche … Der Traumdeutung bleibt es überlassen, den Zusammenhang wiederherzustellen, den die Traumarbeit vernichtet hat.“ (Sigmund Freud, Die Traumdeutung)

In der Literatur ist der Traum seit jeher ein Thema gewesen, das zur Auseinandersetzung herausgefordert hat. Die Werke, in denen selbst im Titel auf den Zusammenhang mit Träumen hingewiesen wird, sind  zahlreich und vielfältig: Ein Traumspiel (August Strindberg), Traumnovelle (Arthur Schnitzler), Ein Sommernachtstraum (William Shakespeare), Traum eines Löwenbändigers (Johannes Urzidil), Des Sängers Traum (Javier Marías) – oder schließlich und endlich Das Leben ein Traum (Calderón) und Der Traum ein Leben (Franz Grillparzer).

Da das Gehirn niemals völlig abschaltet oder, entsprechend des heutigen Sprachgebrauchs, im Standby-Modus aktiv bleibt – es sei denn im Falle des Todes, weshalb ein Mensch heutzutage erst dann für klinisch tot erklärt wird, wenn seine Gehirnfunktion zum Stillstand gekommen ist –, bleibt das Gehirn auch während der Phase des Schlafs aktiv. – Die Folge ist der Traum.

 

Manfred Chobot

 
     
     
 
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