Publikationen - Leseprobe  
     
 
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  Mich piekst ein Ameisenbär –
Weltgeschichten
     
    2013: Wien, Löcker      
           
    Ca. 246 Seiten      
    € 19,80      
           
           
               
 
     
   
 

EINCHECKEN

Warum sollte ich nach Israel nicht mit El Al fliegen? Noch wusste ich nicht, dass es einen Unterschied macht, ob man eine x-beliebige Fluglinie oder El Al wählt. In der Luft ist es einerlei, zwar gibt es bessere und schlechtere Bordmenüs, alle Stewardessen sind auch nicht gleich hübsch, doch fliegt man schließlich nicht wegen Bordmenüs und Stewardessen. Dass die Sicherheit nicht abzustürzen sich bei allen Fluglinien mehr oder weniger die Waage hält, will ich stillschweigend unterstellen.
Der Unterschied zwischen El Al und den anderen liegt im Einchecken – vielmehr im Davor. Denn bevor Sie Ihr Gepäck am Schalter loswerden können, Ihr Flugticket, Ihren Pass vorlegen, begegnet Ihnen jemand vom Sicherheitspersonal. Keine Frage, dass El Al aus den Erfahrungen mit dem Terrorismus eine besondere Vorsicht walten lassen muss. Meinetwegen kann man meine Koffer öffnen, durchleuchten, nach Waffen und Sprengmittel durchsuchen. Zumal es auch meiner eigenen Sicherheit dient, denn weder mag ich entführt, noch in der Luft in die Luft gesprengt werden. Da ich ein friedfertiger Mensch bin, habe ich damit keinerlei Probleme zudem die entsprechende Einsicht. In Hawaii etwa fürchtet man weniger Attentate als die Mitnahme von Samen, Pflanzen und Früchten. Ihnen gilt dort die Untersuchung. Hingegen bin ich nicht in Hawaii, sondern möchte nach Tel Aviv, da Jerusalem über keinen Flughafen verfügt, radle ich also meinen Koffer in Richtung Eincheck-Schalter, schleppe mein Handgepäck mit mir herum und gerate an das Hindernis eines Sicherheitsbeamten:
Warum reisen Sie nach Israel?
Weil ich zu einer internationalen Autorentagung eingeladen bin.
Was ist das für eine Tagung und wo findet sie statt?
Schlau, wie ich bin, habe ich die Einladung in meinem Handgepäck, denn ich möchte schließlich nicht in Tel Aviv am Flughafen stehen und nicht wissen, wohin ich mich wenden soll. Problemlos kann ich das Schreiben der Veranstalter vorzeigen.
Warum kennen Sie Ihr Reiseziel nicht?
Ich kenne mein Reiseziel, wusste allerdings nicht, dass es erforderlich ist, Details auswendig zu lernen, weshalb ich dem Ort und dem Namen des Hotels wenig Beachtung geschenkt habe, zumal Papier und Notizen immerhin schon erfunden worden sind.
Wann haben Sie Ihr Flugticket bestellt?
Keine Ahnung. Derartige Daten pflege ich mir weder zu merken noch in meinem Terminkalender festzuhalten.
Ihr Flugticket wurde am (habe ich leider vergessen) ausgestellt. Warum haben Sie es erst zwei Tage vor Ihrer Abreise abgeholt?
Vorher hatte ich keine Zeit. Und ich fand es auch nicht zwingend notwendig, mein Ticket früher zu holen. Auch meinen Koffer habe ich nicht drei Wochen vorher gepackt.
Die Sicherheitsdame blättert in meinem Pass. Sie waren vor etwa einem Monat in Litauen?
Ja, ich war in Litauen. (Zweifelsfrei anhand meines Passes zu erkennen, da die Stempel meiner Ein- und Ausreise deutlich sichtbar sind. Ob es unsittlich ist, nach Litauen zu reisen?)
Wieso wurden Sie nach Israel eingeladen?
Schwer zu beantworten, vielleicht weil die Veranstalter meine Literatur schätzen oder weil sie einen österreichischen Autor dabei haben wollen und keinen anderen kennen oder weil diejenigen, die sie einladen wollten, keine Lust oder keine Zeit hatten, nach Israel zu kommen oder weil –
Woher kennen Sie diese Leute? Sind Sie Ihnen persönlich bekannt?
(Müssen Israel-Urlauber vor Antritt ihrer Reise sich mit dem Hotelportier – oder besser mit dem Hotelmanager anfreunden?) Die Dame, die mich eingeladen hat, eine Dichterin, habe ich letztes Jahr bei einem Poesie-Kongress kennengelernt, den Herren, ebenfalls Lyriker, kenne ich bislang bloß brieflich und emailig. (Verzeihen Sie bitte, aber das Gespräch wurde teilweise in Englisch geführt, sodass Unzulänglichkeiten des Übersetzers nicht auszuschließen sind.)
Der deutsch sprechende Sicherheitsbeamte entschuldigt sich für seine englisch sprechende Kollegin, nachdem sie uns aus mir unbekannten Gründen verlassen hatte, dass sie sich nämlich erst in der Ausbildung befinde und daher noch Fehler mache. Selbstverständlich nehme ich seine Entschuldigung an.
Sie sagten, dass Sie Schriftsteller sind. Können Sie das in irgendeiner Weise beweisen?
Na ja, ich könnte Ihnen einige meiner Bücher vorweisen, die ich mitgenommen habe, um daraus in Israel zu lesen. (Bei Literaturtagungen, an denen ich aus meinem literarischen Fundus vortragen soll, nehme ich die Bücher stets in mein Handgepäck, damit ich nicht ohne schriftliche Hilfsmittel dastehe, falls mein Koffer verloren geht oder verspätet ankommt, denn ich zähle nicht zu jenen Autoren, die ihr Werk auswendig vorzutragen imstande sind.) Nach dem siebenten oder achten meiner Bücher war der Sicherheitsbeamte davon überzeugt, dass ich Schriftsteller bin. Und er entschuldigte sich, dass er meinen Namen nicht kenne, aber es gäbe eben sehr viele Schriftsteller.
Nun durfte ich am Eincheck-Schalter meinen Koffer nach Tel Aviv abfertigen lassen.

Hingegen musste ich irgendwann wieder heim, wiewohl ich noch gern ein paar Tage geblieben wäre, ein paar Tage für Tel Aviv, aber mein Flugticket war unerbittlich. Mit meinen gepackten Koffern war ich bereit zum Check-In.
Nein, erklärte mir die Dame, noch sei es nicht so weit.
Zurück zum Start. (Wie beim Mensch-ärgere-dich-nicht.)
Bis das Security-Pärchen sich meiner annahm:
Was ich in Israel getrieben hätte? (Übersetzungsfehler aus dem Englischen!)
Da war ein literarischer Kongress, an dem ich teilgenommen habe, nämlich in Shavei Zion, liegt nördlich von Haifa. (Dort gewesen, ist mir der Ort zu einem Begriff geworden.)
Was für ein Kongress ist das gewesen?
Ein Dichter-Kongress, eine Poeten-Tagung. Ich habe dort gelesen.
Ob ich das Manuskript meiner Vorlesung vorlegen könne?
Nein, ich habe kein Manuskript, da ich einige meiner Gedichte vorgetragen habe, die zu einem beträchtlichen Teil gedruckt sind.
Können Sie uns diese Druckwerke vorweisen?
Kann ich. Dazu müssten wir allerdings einen meiner beiden Koffer öffnen, möglicherweise alle beide, denn ich habe vergessen, in welchen ich sie hinein gepackt habe. (Bei Rückreisen schleppe ich mich doch nicht handgepäcksmäßig mit meinen eigenen Büchern ab. Sollten sie verloren gehen, kann ich allemal auf einen zusätzlichen Leser hoffen.)
Wo haben Sie genächtigt? Können Sie uns Ihre Hotelrechnung zeigen?
Klar, die habe ich in meine Brieftasche gesteckt. (Warum eigentlich „Brieftasche“? Für Briefe ist sie viel zu klein, hinein passen Kreditkarten, Geldscheine und Münzen.) Ich zückte meine „Brieftasche“. („Können Sie uns ...“ – dieser Plural rührte daher, dass mich ein Männlein und ein Weiblein befragt haben. Untereinander sprachen sie Hebräisch. Und sie erklärten auch, warum sie dies tun: Eines der beiden – weiß nicht, ob male oder female – sei nämlich noch in Einschulung begriffen. Ich begriff, dass fünfzig Prozent des El Al-Sicherheitspersonals sich offenbar weltweit in Aus- und Weiterbildung befinden, um Nachwuchsprobleme wurzelmäßig – also radikal – erst gar nicht aufkeimen zu lassen.)
Meine Gegenfrage, was durch eine Hotelrechnung bewiesen würde, verkniff ich mir. Immerhin könnte ich mir eine Dame angelacht haben – oder sie mich –, und wir könnten ein paar nette Tage im trauten Heim oder im Schlafsack verbracht haben.
Sie haben einen neu ausgestellten Pass. Warum?
Weil mein alter Pass abgelaufen und daher ungültig geworden ist.
Ist dies Ihr erster Pass?
Wie ich bereits sagte, ist mein alter Pass abgelaufen, weshalb ich mir einen neuen Pass besorgen musste. (Leider bin ich nicht nach Israel eingeladen worden, als mein alter Pass noch gültig war. Hätte ich warten sollen bis mein neuer Pass abgelaufen sein wird, um davor noch schnell Israel zu bereisen?)
Zeigen Sie uns bitte das Manuskript, aus dem Sie vorgelesen haben.
Wie ich bereits erwähnte, habe ich kein Manuskript, da ich aus meinen Büchern gelesen habe. Und die Bücher befinden sich in einem meiner Koffer. Ich kann beide öffnen und nach den Büchern suchen. Mit welchem soll ich beginnen?
Haben Sie ein Programm von der Tagung oder diesem Kongress?
Ich habe mir davon sogar zwei mitgenommen für mein Archiv der Eitelkeiten und habe die beiden Exemplare in einem der Koffer verstaut. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen das Programm zeigen. Leider weiß ich nicht mehr, in welchen Koffer ich sie gepackt habe.
Können Sie Ihre Teilnahme an diesem Kongress nachweisen?
In meinem Handgepäck befinden sich Bücher einer dänischen Kollegin und eines Italieners, beide mit persönlichen Widmungen für mich. Diese Bücher möchte ich auf dem Rückflug lesen. (Davon waren die miteinander hebräisch konversierenden Sicherheitsleute nicht beeindruckt.)
Sie sagen, dass Sie Schriftsteller sind, bitte geben Sie uns dafür einen Beweis.
(Schon wieder. Ich dachte, dieses Problem sei auf dem Heimweg nicht mehr von Belang. Wie beweist ein Maler, dass er Maler ist? Zieht ein Zahnarzt einem Freiwilligen den Weisheitszahn? Operiert ein Chirurg ambulant? Möglicherweise würde man die Mitnahme eines Skalpells missdeuten. Oder demonstriert ein Urlauber seinen Sonnenbrand? Hoffentlich hat er sich einen geholt! Sich stets im Schatten aufgehalten zu haben, wird womöglich als Missachtung der israelischen Sonne interpretiert.) Ich kann Ihnen Bücher von mir vorlegen, die sich, wie ich bereits erklärt habe, in einem der beiden Koffer befinden. Bis zum Check-In haben wir noch ausreichend Zeit. Allerdings möchte ich den Flieger nicht versäumen.
Mir war nach einem koscheren Glas Wein.

EINREISEFORMALITÄTEN

Bei der Ankunft am New Yorker Flughafen John F. Kennedy wurde Dr. Hans (Johann) Greiwart verhaftet.
Indem er seine Finger am Erkennungsorakel gerieben hatte, war seine Identität bekannt geworden. Dr. Greiwart kam mit seiner Ehefrau Sabine aus Europa angereist, die es sich in den Kopf gesetzt, immerfort den Wunsch geäußert hatte, mit ihrem Mann einen Kurzurlaub in den Vereinigten Staaten zu verbringen, am liebsten in New York.
Ihr fünfzigster Geburtstag bot Dr. Greiwart einen gediegenen Anlass, seiner Frau Sabine eine Reise zu schenken und sie dorthin auszuführen, wo er während seiner Studienzeit einige Monate verbracht hatte, mit ihr über den Broadway spazieren, vielleicht eines der Theater besuchen oder im „Blue Note“ ein Jazzkonzert. Unverzichtbar war auch der Washington Square, die Fifth Avenue, die Wall Street, das Empire State Building, im Greenwich Village verblassenden Erinnerungen nachhängen, das Stadtviertel SoHo war Pflicht, ebenso die Museen. Gerne wollte er nach einem Rundgang durch den Central Park an jenem berühmten Haus vorbeigehen, dem Dakota Building, wo John Lennon erschossen wurde. Von John Lennon war er seit Teenager-Tagen ein Fan, mehr als von den anderen drei Beatles. Keinesfalls wollte Dr. Greiwart auf die Besichtigung der Freiheitsstatue verzichten. Er hegte nicht im mindesten Bedenken, dass ihnen langweilig werden würde, eher wird diese Woche viel zu kurz sein für alles, was er sich vorgenommen hatte, seiner Sabine zu zeigen.
Für sieben Nächte hatte er ein Fünfsternehotel im Voraus gebucht, damit sich Sabine wohlfühle. Diesen Luxus konnte er sich locker leisten. Die beiden fast erwachsenen Kinder waren versorgt und befanden sich auf dem Sprung in ihr berufliches Fortkommen. Durch sein Einkommen als Gynäkologe verfügte Dr. Greiwart über einen bequemen Freiraum in finanziellen Belangen.
Indessen wurde er von zwei resoluten Beamten in einen Sonderbereich des Flughafens abgeführt: Sie eskortierten jeden seiner Schritte, als könnte ihm die Flucht gelingen.
Dr. Greiwart war Oberarzt einer Wiener Klinik, zudem besaß er eine eigene Ordination für Frauenheilkunde.
Unmissverständlich wurde ihm mitgeteilt, dass er amerikanischen Boden nicht betreten dürfe. Seiner Frau wurde hingegen gestattet, in die USA einzureisen. Sabine war gehörig die Lust vergangen, einen Urlaub in New York oder sonst irgendwo in den Vereinigten Staaten zu verbringen.
„Was werfen Sie mir vor?! Ich bin ein unbescholtener Bürger, österreichischer Staatsbürger, es muss sich um einen Irrtum handeln.“
Die Beamten schwiegen. Vorerst. Es dauerte Stunden, bis man sich seiner wieder annahm. Irgendwann öffnete sich die Tür und ein erlauchter Oberbeamter trat ein. „Es ist Ihnen untersagt, sich auf dem Territorium der Vereinigten Staaten aufzuhalten.“
Mehr sagte er nicht.
„Mit dem nächsten Flugzeug fliegen Sie zurück, woher Sie gekommen sind.“
Immer wieder wiederholte Dr. Greiwart seine Frage: „Was werfen Sie mir vor?“ Sein Englisch war fehlerfrei und ohne Akzent.
„Wie aus unseren Aufzeichnungen hervorgeht, haben Sie vor Jahren illegal in den Vereinigten Staaten gearbeitet. Deswegen ist Ihnen die Einreise untersagt. Unterlassen Sie jegliche Versuche, sich zu rechtfertigen. Das Gesetz der Vereinigten Staaten verbietet Ihnen, amerikanischen Boden zu betreten.“
„Das ist mehr als zwanzig Jahre her, damals war ich Student der Medizin, inzwischen bin ich Oberarzt in einem Spital und betreibe meine eigene Praxis. Ich habe ein Hotel gebucht, hier ist mein Rückreise-Ticket. Sie werden doch nicht ernsthaft glauben, dass ich zum Arbeiten hierher gekommen bin, ganz im Gegenteil möchte ich eine Woche nichts arbeiten, mit meiner Frau Urlaub machen, ihr New York zeigen.“
„Was ich glaube, steht nicht zur Diskussion! Ihrer Ehefrau ist die Einreise gestattet.“
„Denken Sie, dass sie ohne mich eine Woche hier verbringen möchte?“
„Ich wiederhole: Sie haben illegal in den Vereinigten Staaten gearbeitet, haben ihre Aufenthaltsbewilligung überzogen, deshalb ist Ihre Einreise sowohl illegal als auch unerwünscht. Auf Wiedersehen!“
Ein Wiedersehen fand nicht statt. Mit der nächsten Maschine wurde Dr. Greiwart zurück nach Europa geflogen. Seine Frau begleitete ihn. Ihr war die Lust gründlich vergangen, sich jemals in ihrem Leben in den Vereinigten Staaten als Touristin aufzuhalten.

KLEMMENDE FLUGZEUGTÜR

In wenigen Stunden sollte das Flugzeug aus Europa auf der Hawaii-Insel Maui landen. An Bord Tobias. Der Vater machte sich bereit, seinen sechzehnjährigen Sohn abzuholen. Die nächsten zwei Wochen werden Vater und Sohn gemeinsam verbringen: Ich werde mit Tobias auf der Insel herumfahren, wir werden den Nobel-Ort Lāhainā besuchen und das Fischerdörfchen Hāna, die Windsurfer am Strand von Ho’okipa beobachten, den Vulkan Haleakalā besichtigen, und ich werde ihm von der Vulkangöttin Pele erzählen. – Als das Telefon läutete.
„Tobias wird heute nicht kommen“, tönte die Mutter glasklar von der anderen Seite des Globus.
„Habt ihr den Flug verpasst, die Dauer der Fahrt zum Flughafen unterschätzt?“ Der Vater wusste, wie weit der Weg ins Erdinger Moos zum Franz-Josef-Strauß war, wie lange man auf dem Münchner Flughafen von einem Gate zum anderen unterwegs sein konnte, und er kannte die Unpünktlichkeit seiner Geschiedenen.
„Natürlich waren wir zeitgerecht dort, aber es gab ein Problem mit dem Flugzeug – eine der Türen klemmte und ließ sich nicht öffnen.“
„Was du nicht sagst! In einem solchen Fall ist das Flugzeug fluguntauglich.“
Die Tobias-Mutter ignorierte den Einwand ihres Ex. „Jene Passagiere, die für einen Sitzplatz im Umkreis dieser Tür gebucht waren, konnten nicht mitkommen. Sie mussten einen späteren Flug nehmen. Einer davon war Tobias.“
„In zehntausend Meter Höhe beträgt die Außentemperatur ungefähr minus fünfzig Grad Celsius. Hatte man befürchtet, es würde kalte Luft bei der Tür hereinpfeifen und sich wegen der Zugluft die Gefahr einer Grippeinfektion eröffnen? Womöglich könnte ein Passagier zur Tür hinaus geweht werden.“
„Du nimmst wieder einmal alles viel zu leicht. Den Verantwortlichen erschien es jedenfalls ein ernsthaftes Risiko. Die Fluglinie war sehr großzügig, sie hat Tobias für den nächsten Tag einen Platz in der Business Class angeboten, und zwar ohne Aufpreis. Allerdings muss er einmal mehr umsteigen. Er fliegt nicht von München nach Los Angeles, sondern über Frankfurt nach San Francisco.“
Diese Erschwernis ist einem Sechzehnjährigen zuzutrauen.
Bereits aus der Ferne war Tobias am nächsten Tag für seinen Vater erkennbar: Die Welt und das Leben lasteten mit all ihrer Schwerkraft auf seinen Schultern. Jeder Schritt schien kaum bewältigbar. Eine Strickmütze verhüllte beide Ohren, als hätte sich das Flugzeug in arktische Landstriche verflogen und wäre nicht auf der Hawaii-Insel Maui gelandet.
Der Mund unter der Strickmütze erklärte: „Business Class ist cool. Ich werde immer Business fliegen. Die haben sich total ganz um mich gekümmert. Fliegen ist supergeil.“
„Das finde ich ganz total toll, dass du dir diesen Luxus wirst leisten können! Im Business war wenigstens die Tür nicht so cool wie beim gestrigen.“
„Verstehe nicht, was du sprichst.“
„Na, ich meine die zugige Tür im Flieger von gestern, wo sie dich nicht haben mitfliegen lassen, weil ihr zu spät zum Einchecken gekommen seid.“
„Wir waren pünktlich dort.“
„Eine halbe Stunde oder eine Viertelstunde vor dem Start? War der Flug schon geschlossen, wie die verflixte Tür.“
„Es war wirklich echt so, wie Mama dir gesagt hat.“
Dass die Tür des Flugzeugs tatsächlich geklemmt hatte, darauf schwört Tobias bis heute jeden Eid.

MEIN REICHTUM IST AUSGEBROCHEN

Ich bin reich! Unermesslich reich, und jeden Tag werde ich reicher. Ich gewinne in den Niederlanden eine Million, in Großbritannien Dreiviertel einer Million, auch in Belgien und der Slowakei rase ich die Gewinnstraße entlang oder hinauf oder hinunter, ich weiß längst nicht mehr, wie es um mich steht.
Aus Südafrika vererbt mir ein Verstorbener seine Millionen, mit denen seine kinderlose, unheilbar kranke und fast siebzigjährige Witwe nichts anzufangen weiß. God bless you! Und wie Er mich geblesst hat: Ein wahres Wunder, dass die arme, vermögende Witwe mit letzter Kraft kurz vor ihrem Ableben meine Mail-Adresse im Internet gefunden hat. Gäbe ja einige, die infrage kämen, weltweit ein ganzer Haufen, aber ausgerechnet mich hat die Todeskandidatin auserkoren, ihre Erbschaft zu übernehmen. Bereitwillig trete ich sie an. Da lässt sich schon mit Millionen rechnen. Im ersten Moment dachte ich gar, sie wolle mich heiraten, aber auf eine Mischehe hat sie es nicht angelegt. Ich konnte meine Überlegungen zügeln, ob ich zu ihr ziehen oder sie zu mir nach Hause übersiedeln würde. Mich abzuschleppen, darauf kam es ihr nicht an.
In Nigeria dürften sämtliche im Erdölgeschäft involvierten Manager epidemisch durch Flugzeugabstürze oder Autounfälle ums Leben kommen. Erdölmanager scheint in dieser Region ein gefährlicher, wenn nicht sogar genetisch letaler Beruf zu sein. Zumal der Rest der Manager an Krebs stirbt. Nicht ums Verrecken würde ich in Nigeria ein Flugzeug besteigen oder mich in ein Auto setzen. Jedoch vor ihrem Ableben gelang es ihnen allen, zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Millionen auf die sichere Bankkontenseite zu schaffen. Nun liegen sie müßig herum, die Millionen, anstatt zu arbeiten, wie es sich für ein anständiges Kapital gebührt. Selbst wenn mir nicht sämtliche dieser trägen Millionen überwiesen werden, täten sich liebend gern ein paar von ihnen zu mir verirren. Leider kann ich nicht alle Unfallopfer beerben und mich womöglich mit ihren Witwen einlassen. Einige von ihnen haben unmündige Kinder hinterlassen, für die müsste ich allerdings sorgen.
Ehrlich gesagt, ist die Aufzucht von Kinder nicht mein Metier. Lieber lasse ich meine Millionen krachen. Jetzt kann ich es mir leisten, meine Ehefrau zu betrügen. Offenbar haben ein paar Mädels Wind davon bekommen, wie es um mich steht. Sie schreiben mir, dass sie es kaum erwarten können. Ein paar verfolgt der Gedanke an mein bestes Stück sogar bis in ihre unruhigen Träume. Anstatt bloß und keusch zu schlafen, bestehen Anja und Anke und Anita und Aurora darauf, mit mir tête à tête in der Morgendämmerung zu erwachen. Sie sind alle so was von scharf auf mich, haben mehrere Ewigkeiten vergeblich gewartet und sich für mich aufgespart. Was bleibt mir anderes übrig, als abzuheben und meine ersparten Millionen mit geilen Girls auf den Schädel (oder sonst wohin) zu hauen.
Eine Agentur liefert jegliches Alibi. „Sie springen gern – springen dann und wann auf die Seite? Kein Problem. Ihre Ehefrau muss davon nichts erfahren. Springen Sie nicht zur Seite, sondern machen Sie einen Schritt auf uns zu. Wir sind ein seriöses Unternehmen, Dienstleistung ist unsere Stärke. Wollen Sie ein paar entspannte Tage auf Reise verbringen? Wir beraten Sie. Auf uns können Sie bauen, Ihr Vertrauen ist unser Verschweigen.“ Die Betreuung ist ausgezeichnet, ich kann sie jedermann empfehlen. Tatsächlich ist der Stab an Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen bestens ausgebildet, ihre Kreativität sprüht vor Bereitschaft und selbstlosem Einsatz. Sie holen das letzte aus sich heraus und geben alles, was sie haben und wozu sie fähig sind. Womöglich sogar mehr. Das ist allerhand. Gewisse Spesen sind natürlich unumgänglich. Leistung muss honoriert werden!
Als wäre ich nicht schon seit langem ein professioneller Glückspilz, flattert ein Brief in meinen Postkasten, auf dem ich schwarz auf grünen Wellen lesen kann, dass ich ein Gewinn-Kandidat bin. Man zahlt mir zehn Jahre lang 500 Euro pro Monat. Was sind die biblischen Wunder gegen meine Gegenwart! „Haben Sie verstanden? Sie sind Gewinn-Kandidat! Der Erhalt ist durch Meldung zu bestätigen!“ Für eine Sofort-Pension rufe ich sogleich an. Sollen sie doch meine Melde-Daten hören: die Reg. Nr. 532768 und meine persönliche Glücks-Nummer 11028374. Die Zeit drängt. Ich bin als Gewinn-Kandidat vorgesehen. „Wie Sie aus der beiliegenden Gewinn-Kandidatur-Bestätigungs-Kopie ersehen, können Sie jetzt Ihre Gewinn-Kandidatur nur noch innerhalb einer Frist von 10 Tagen anmelden. Das hat mein Chef so entschieden.“ Der Leiter der Gewinnabteilung schickt mir persönlich einen Brief. „Das ist jetzt wirklich Ihre letzte Chance. Melden Sie sich bitte umgehend, damit ich meinem Chef gegenüber wieder ein reines Gewissen und eine weiße Weste habe. Mein Chef wird mich sicher morgen schon fragen, ob Sie sich endlich gemeldet haben. Dann möchte ich ihm berichten können, dass Ihre Registrierung erledigt ist. So viel Glück haben Sie nicht alle Tage!“
Schon wieder 60.000 Euro gewonnen! Mein Konto biegt sich bereits.
Inzwischen ist es wegen Überlastung gesperrt. Mir reicht es!

MANN DES JAHRES

Endlich hat man meine Bedeutung erkannt und mich zum „Mann des Jahres“ gewählt!
Zwar habe ich in diesem Jahr weniger erreicht als die Jahre zuvor, hatte keinen einzigen Fernsehauftritt, auch die Zeitungen ignorierten mich und hüllten sich in Schweigen, was meine Person betrifft. Keine einzige Zeile war ich ihnen wert. Desgleichen war auch der Rundfunk für mich nicht zu sprechen. Wenigstens hätte er berichten können, dass ich mich gut fühle. Meine Genugtuung lässt mich über mich selbst hinaus wachsen. Geschieht ihnen recht, dass sie jetzt eines Besseren belehrt wurden, wen sie permanent mit Missachtung bedacht haben. Ignoranten, wohin ich blicke!
Meine Bücher musste ich im Selbstverlag unter die Leute bringen, da in den Redaktionen weltweit leider Dummköpfe das Sagen haben. Dazu schweige ich lieber.
Nachdem mich der Brief des angesehenen Instituts erreicht hatte, habe ich mir eine Flasche Champagner vom Feinsten gekauft und mir selbst zugeprostet.
Damit meine Freunde, Verwandten und Bekannten auch wissen, mit wem sie es in Zukunft zu tun haben, ziert eine Urkunde meine Wohnung. Lange habe ich überlegt, wohin ich sie hängen sollte, bis ich zu dem Entschluss gelangte, die Urkunde über dem Esstisch in meinem Wohnzimmer anzubringen, wo man sie sogar von der Sitzbank sehen kann. Lesen kann man von dort allerdings nur meinen Namen. Ich denke, das sollte genügen. Für den Rahmen habe ich blauen Samt gewählt. Roter Samt wäre mir ein wenig aufdringlich erschienen.
Die Urkunde ist überaus wertvoll! Auf Pergamentpapier mit Goldschrift ausgeführt. Samt Siegel und Unterschrift des Präsidenten sowie seines Stellvertreters. Das Siegel mit dem Band glänzt in herrlichem Rot.
Selbstverständlich war ich bereit, für diese kostbare Urkunde 1000 Euro zu bezahlen. Das bin ich mir selbst schuldig. Andernfalls würde niemand um meine Verdienste wissen. Alle unsere Zeitungen habe ich informiert, dass ich zum „Mann des Jahres“ gewählt wurde. Obwohl sie die Meldung nicht abgedruckt haben, kennen sie nun meinen Namen und wissen, was ich geworden bin. Für jene, die ich nicht zu mir nach Hause einlade, trage ich seither einen Orden an meiner Brust. 500 Euro war mir die Ehre wert. Da ich nicht ständig mit einem Orden an meinem Hemd herumlaufen mag, habe ich mir natürlich auch die Anstecknadel für 300 Euro zuschicken lassen, die mit meiner Auszeichnung verbunden ist. Sie ist sehr dezent, ich trage sie stets an meiner Krawatte. Sie ist ein geheimes Zeichen, das jeder Eingeweihte sogleich erkennt. Schließlich muss nicht jeder wissen, dass ich zum „Mann des Jahres“ gewählt wurde. Ich bin kein Politiker, kein Wissenschaftler, kein Journalist, keiner, der sich in der Öffentlichkeit in den Vordergrund drängt. Ich ziehe die kultivierte Zurückhaltung vor. Den eigenen Wert kennt man nur selbst!
Die Servietten sowie das Tischtuch mit meinem eingestickten Namen und dem international anerkannten Logo „Mann des Jahres“ habe ich nicht bestellt. Zwar wäre es mir auf die 200 Euro nicht angekommen, aber ich möchte keinen Kult um mich in Gang setzen. Alles, was recht ist.
Meine Neider verkünden inzwischen lautstark, die Wahl zum „Mann des Jahres“ habe irgendein Computer irgendwo in Großbritannien getroffen, jedoch sind Computer keine Deppen, die nicht wüssten, worum es ginge.
Es beruhigt mich jedenfalls, dass nicht unbemerkt geblieben ist, was ich leiste.
Glücklicherweise bin ich nicht eitel. Andere an meiner Stelle hätten vermutlich den selbsthaftenden Aufkleber für die Windschutzscheibe sowie die Spezial-Griffe mit dem Logo „Mann des Jahres“ für ihren Wagen bestellt. Da ich keinen Wagen fahre, genügt mir die geschmackvolle Klobrille mit meinem Namen. Dabei habe ich nicht lange an die hundert Euro gedacht, denn ich bin selbst Brillenträger.
Ehre, wem Ehre gebührt! Damit kann und muss ich leider leben.

 

 
     
     
 
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