Publikationen - Leseprobe  
     
 
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Der Gruftspion
  „Der Gruftspion"
Prosa.
     
    Mit Grafiken von Karl Anton Fleck
     
    1978: Wiener Neustadt,
     
    Autorenedition      
    Januskopf      
    vergriffen      
           
               
 
     
   
 

Briefträger

Wie jedermann weiß, sind auch Briefträger Menschen, obwohl sie eine Uniform tragen, die hierzulande blau ist, was über den geistigen Zustand eines Briefträgers keine Aussage & Bedeutung besitzt. Trotzdem gibt es einige Wirtshäuser, die Briefträgerkneipen genannt werden. dort kann man jeden Vormittag jede Menge von Briefträgern treffen, mit einigem Glück sogar den eigenen, d. h. den für das Haus, in dem man wohnt, zuständigen, wenn man weiters auch noch ein gutes Verhältnis zu diesem besonderen Briefträger hat, d. h. vielleicht durch eine enge Brieffreundschaft dem Briefträger zugetan ist, dann kann man mit etwas Glück sogar in der betreffenden Briefträgerkneipe die einem zugehörige Post von seinem zuständigen Briefträger ausgehändigt bekommen, d. h. sie ihm durch geschickte Schachzüge (obwohl selten Schach gespielt wird in den Briefträgerkneipen) herauslocken. Jeder, der zur Post als Briefträger geht, muss, da die Post bekanntermaßen miserable Gehälter bezahlt, eine gewisse Vorliebe und natürlich die entsprechenden Fähigkeiten im Kartenspielen besitzen, um tatsächlich einen Job als Briefträger annehmen zu können, denn schließlich ist es keineswegs einfach, in irgendeinem der als Briefträgerkneipen bekannten Wirtshäuser des Vormittags im Kartenspiel bestehen zu können, schließlich hat man es mit Profis, mit Meistern ihres Faches zu tun und nicht – wie manche glauben – mit Laien, blutigen Anfängern.
Weiters hat es sich als außerordentlich günstig erwiesen, als Briefträger eine – womöglich – innige Freundschaft mit einem Schuster (vielleicht ebenfalls eine Brieffreundschaft?) zu pflegen, da man als Briefträger einem unglaublichen, geradezu gigantischen Verschleiß an Schuhsohlen, im besonderen an Absätzen, unterliegt, und zwar durch ständiges treppauf & treppab, das ist heutzutage zwar wesentlich besser geworden durch die Anbringung von Hausbriefkästen in jedem Haus, was zwar der Post enorme Gelder kostet, weshalb – was man schließlich einsehen muss – die Postgebühren ständig und unaufhaltsam steigen und weshalb weiters – was man schließlich ebenfalls einsehen muss – die Gehälter für Briefträger derart niedrig gehalten werden, und zwar einfach deshalb, weil kein Geld vorhanden ist, was eben die obenerwähnten, als Wirtshäuser bekannten Briefträgerkneipen entstehen ließ, denn schließlich und endlich muss ein Briefträger ja auch von etwas leben, und sind eben seine kleinen Nebeneinkünfte beim Kartenspielen (spätestens jetzt bemerkt & versteht man, dass Profitum eine Voraussetzung, ja Überlebensnotwendigkeit, für einen Briefträger darstellt).
Wie gesagt: Täglich am Vormittag trifft man die Briefträger in den als Briefträger¬kneipen bekannten Wirtshäusern beim Lebensunterhalt garantierenden Kartenspiel, und nur eine einzige Ausnahme ist mir bekannt: Immer dann, wenn die üppige Rothaarige in unserem Hausflur wartend auf und ab geht, dann ist es bald so weit, dann ist der unserem Haus zugeteilte Briefträger nicht mehr weit. Und tatsächlich: wenig später öffnet er das Haustor und betritt unser Haus. Dann öffnet er den Hausbriefkasten, gibt die entsprechende Post ins entsprechende Fach und verschließt den Hausbriefkasten. Dann geht er Arm in Arm mit der üppigen Rothaarigen die Stiegen zum Keller hinunter. Dann kann jeder, der Lust hat, von oben die Stiegen zum Keller hinunterschauen. Dann stellt der Briefträger seine Brieftasche ab. Dann hebt die üppige Rothaarige ihren Rock – und ab geht die Post. Anschließend verlässt der Briefträger (nicht bevor er die Brieftasche wieder umgenommen hat) das Haus.
Das ist eine Art, wie sich Briefträger vermehren.
(1973)

Kündigung

Der Hausherr, Herr Haus, 58, hatte den Entschluss gefasst, einigen Parteien seines Hauses, in dem er auch selbst wohnte, die Kündigung zu schicken. Um diesen Schritt nicht unvorbereitet zu begehen, ist er vorher zu seinem Rechtsanwalt, sodann zu seinem Hausverwalter gegangen und hat sie um Rat gefragt. Als er sich also vergewissert hatte, dass dieser Schritt rechtlich möglich war, schritt er zur Verwirklichung seines Vorhabens:
Er setzte sich zu seiner Schreibmaschine, spannte ein leeres Blatt Papier ein und begann zu schreiben:

Hermann Haus
…-straße
Wien

Herrn
Hermann Haus
…-straße
Wien

Wien, den 14. März 1972

Betrifft: Auflösung Ihres Mietverhältnisses im Haus …-straße, Wien

Euer Hochwohlgeboren!
Aufgrund mir gegenüber wiederholt geäußerter Klagen verschiedener Haus¬parteien, betreffend Ihr undiszipliniertes, lärmendes Verhalten zu nachtschlafender Stunde, sehe ich mich genötigt, das Mietverhältnis mit Ihnen per 1. 4. d. J. zu kündigen.

Hochachtungsvoll
Hermann Haus, e.h.

Sodann spannte er neuerlich ein leeres Blatt Papier in die Schreibmaschine ein und schrieb denselben Text wieder und so fort. Lediglich die Empfänger änderten sich. Dann faltete er die Briefbögen, steckte sie in adressierte Kuverts und verklebte sie. Selbstverständlich warf er die Briefe den Parteien nicht persönlich in deren Briefkästen, sondern ging hinunter zum nächsten Postkasten an der Ecke und warf die Briefe hinein.
Tags darauf erhielt Herr Haus einen Brief. Er entnahm ihn dem Briefkasten, sagte „Schau, ein Brief“, zu seiner Frau, öffnete ihn mit seinem Brieföffner und las:

Hermann Haus
…-straße
Wien

Herrn
Hermann Haus
…-straße
Wien

Wien, den 14. März 1972

Betrifft: Auflösung Ihres Mietverhältnisses im Haus …-straße, Wien

Euer Hochwohlgeboren!
Aufgrund mir gegenüber wiederholt geäußerter Klagen verschiedener Haus¬parteien, betreffend Ihr undiszipliniertes, lärmendes Verhalten zu nachtschlafender Stunde, sehe ich mich genötigt, das Mietverhältnis mit Ihnen per 1. 4. d. J. zu kündigen.

Hochachtungsvoll
Hermann Haus, e.h.

Als Absender stand geschrieben: Hermann Haus, …-straße, Wien.
Herr Haus schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, als er dies las: So etwas musste ausgerechnet ihm zustoßen, ein solches Unglück: Kündigung!
Seine Frau empfand nicht viel anders als er selbst, nachdem sie den Brief überflogen hatte.
„Nur keine unnötige Aufregung, es wird sich alles wieder finden“, sagte Herr Haus und setzte sich mit seiner Frau auf das Kanapee im Wohnzimmer. Frau Haus schenkte beiden ein Glas Wein ein.
„Bis zum 1. 4. ausziehen, stell dir das vor, eine neue Wohnung suchen, ungeheuerlich.“
Herr Haus war verzweifelt.
Als Herr Haus anderntags mit seinem Rechtsanwalt, sodann mit seinem Hausverwalter wegen der Kündigung verhandelte, bestätigten ihm beide, dass der Hausherr das Recht auf seiner Seite habe, ihm, Herrn Haus, zu kündigen.
Herr Haus war völlig verzweifelt.
Was blieb Herrn Haus demnach anderes übrig, als die Kündigung des Hausherrn anzunehmen: Also schaute er sich um eine andere Wohnung um. Er inserierte in Tageszeitungen, fragte Bekannte, ob sie keine Wohnung für ihn wüssten, jedoch beides ohne den geringsten Erfolg.
Er besichtigte Wohnungen, deren Zustand unbeschreiblich war.
Herr Haus war völlig verzweifelt.
In seiner Not suchte er einen Wohnungsvermittler auf. Sogleich musste er einen Vorvertrag unterschreiben und eine Kaution erlegen.
Herr Haus war verzweifelt.
Denn inzwischen war – nach der dritten negativ verlaufenen Besichtigung – die Kaution zugunsten des Wohnungsvermittlungsbüros verfallen. Herr Haus musste neuerlich eine Kaution erlegen.
Herr Haus war verzweifelt.
Er besichtigte eine in einer Annonce als „ruhig“ bezeichnetet Wohnung. Es stellte sich heraus, dass eine Baustelle in allernächster Nähe war. Die Mieten waren alle verhältnismäßig hoch, oder die Wohnungen waren winzig.
Wohl ein Dutzend Wohnungen hatte er inzwischen – in den Tagen bis zum 1. 4. – bereits besichtigt, aber nichts Geeignetes gefunden.
Herr Haus war verzweifelt.
Unaufhaltsam rückte der 1. 4. näher. Herr Haus bestellte bei einer Über¬siedlungsfirma für den 1. 4., 10 Uhr, einen Lastwagen einschließlich zweier Männer.
In seiner Verzweiflung entschloss sich Herr Haus, eine Wohnung mit einer Ablöse von 220.000 Schilling zu nehmen. Beziehbar war diese Wohnung allerdings erst ab dem 15. 4. Was sollte Herr Haus in den vierzehn Tagen, vom 1. bis zum 15. 4. machen? Wo sollte er inzwischen wohnen? Er versuchte, in der Zwischenzeit bei Freunden unterzukommen, doch niemand war bereit, ihn und seine Frau für 14 Tage bei sich aufzunehmen. (Er wurde mit Ausreden abgespeist.)
Herr Haus war verzweifelt.
So entschied sich Herr Haus, mit seiner Frau während dieser Zeit in ein Hotel umzusiedeln. Er wählte ein billiges Vorstadthotel, um die Kosten niedrig wie möglich zu halten. Trotzdem läppert es sich, in einem Hotel zu wohnen.
Die Möbel kamen inzwischen in das Lager der Transportfirma. Pro Tag waren Lagergebühren zu entrichten.
Herr Haus war verzweifelt.
Die alte Wohnung, d. h. seine ehemalige Wohnung, stand in der Zwischenzeit leer. Auch die Wohnungen aller anderen gekündigten Parteien im Haus des Herrn Haus standen inzwischen leer. Dadurch hatte Herr Haus einen Mietzinsentgang zu verzeichnen.
Die finanzielle Lage des Herrn Haus verschlechterte sich rapid. Herr Haus war gezwungen, einen Kredit in der Höhe von 300.000 Schilling aufzunehmen, um die Ablöse für die neue Wohnung – sowie die Installation einer neuen, unbedingt erforderlichen Heizung – bezahlen zu können. Als Sicherstellung für den Kredit diente das Haus des Herrn Haus.
Herr Haus war verzweifelt.
Auch als sie schließlich, Herr und Frau Haus, am 15. 4. die neue Wohnung bezogen, besserte sich ihre Lage nicht wesentlich, gab es doch in der neuen Wohnung kein Telefon. Die Wartezeit betrage etwa zwei bis drei Jahre, wurde Herrn Haus am Telefon- und Telegrafenamt mitgeteilt. Frau Haus war weniger verzweifelt als ihr Gatte, hatten sie doch endlich wieder eine eigene Wohnung.
Herr Haus war nach wie vor völlig verzweifelt.
Die alte, ehemalige Wohnung blieb – ebenso wie die Wohnungen jener anderen von Herrn Haus jüngst, d. h. per 1. 4. gekündigten Mieter – weiterhin unbewohnt.
Dadurch hatte Herr Haus weiterhin einen Mietzinsentgang zu verzeichnen.
Herr Haus war nach wie vor völlig verzweifelt.
(1972)

VOM GEBEN UND VOM NEHMEN

Frau Hermine W. ist 73 und seit fast vier Jahren Witwe. Seit dieser Zeit lebt Frau W. alleine. Frau W. ist trotz ihres Alters geistig und körperlich überaus rüstig. Mit ihrer Rente und ihren Ersparnissen findet Hermine W. bequem ihr Auslangen, es reicht sogar zu einem bescheidenen Luxus oder was Frau W. eben dafür hält. Der Kontakt zu Verwandten ist äußerst lose, eigentlich gar nicht vorhanden. Frau W. und ihr Mann haben niemals Beziehungen zu den Verwandten gehabt, weder zu ihrer Familie noch zu der ihres Mannes. Die Verwandten sind entweder darauf aus, einen zu beerben oder sie sind schrecklich langweilig. Die meisten sind beides zugleich – und das ist das schlimmste. Wenn man selbst einmal etwas braucht, sind die lieben Verwandten plötzlich unauf­findbar, einfach verschollen. Während man sich seine Freunde selbst auswählen kann, stehen einem die Verwandten einfach zu, und das zeitlebens, man ist ihnen ausgeliefert. Herbert X. ist 27. Solange er sich zurück­erinnern kann, seit er denken kann, wurde ihm die Funktion des Geldes eingetrichtert, eingebleut, in der Schule, zu Hause, später in der Lehre und schließlich am Arbeits­platz. Sehr früh hat Herbert X. die Macht des Geldes am eigenen Leib verspüren müssen. Diese Erfahrungen waren eine Lehre für ihn, eine Lektion, die er zeit­lebens nicht vergessen wird.
   Seine Lehrjahre verbrachte Herbert X. in der Erziehungsanstalt, wo er unter anderem Maler und Anstreicher gelernt hat. Herberts Mutter war vom Land in die Stadt gekommen, um Arbeit zu finden. Um eine Wohnung zu bekommen, nahm die Mutter einen Hausmeisterposten an. Die Wohnung bestand aus zwei Räumen zu je zwei mal vier Metern. Das Klo war auf dem Gang. Herberts Mutter arbeitete in einer Konser­venfabrik am Fließband. Als Herbert zur Schule kam, heirateten seine Eltern. Als Herbert in die Hauptschule kam, ließen sich seine Eltern scheiden.
Nach dem Tode ihres Mannes sind die Verwandten mit einem Mal aus ihren Löchern hervorgekrochen. Sie sind alle beim Begräbnis gewesen, ganz so, wie es sich eben gehört, haben Beileid gesagt, in der Hoffnung vielleicht etwas abzube­kommen. In der Folgezeit haben sie Hermine W. umschwirrt wie Fliegen das Licht, doch tatsächlich gekümmert um Hermine W. hat sich kein einziger.
   Hermine W. war in dieser Zeit sehr einsam.
   Mit einem Schlag hatte sie niemanden mehr, der ihr nahestand. Mit Ausnahme ihres Sohnes, aber was hatte sie schon von ihrem Sohn, irgendwie war er ein Fremder geworden. Man lebt sich auseinander, wenn man sich nur alle paar Jahre für ein paar Tage sieht. Das letzte Mal hatte sie ihren Sohn beim Begräbnis ihres Mannes ge­sehen, vier Jahre ist das nun her. Zum Begräbnis des Vaters war der Sohn aus Südafrika nach Europa gekommen.

Zu dieser Zeit war Herbert bereits Zögling des Fürsorgeheims. Im Heim lernte Herbert zu gehorchen. Er lernte, sich dem Überlegenen unterzuordnen und dem Unterlegenen zu befehlen. Herbert X. lernte, dass es Kinder gibt, die immer neue Sachen anhaben und die bei ihren Eltern in der Wohnung leben. Er lernte die Verach­tung kennen, die ihm und seinesgleichen von jenen Kindern entgegengebracht wurde.
Herbert war dann immer sehr nieder­geschlagen.
Mit einem gestohlenen Motorrad hatte Herbert X. versucht, den Gittern des Heims zu entkommen und nach Hause zurück­zukehren. Damit war Herbert X. das erste Mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Als Herbert X. ein zweites Mal versuchte, aus dem Heim zu entkommen, um nach Hause zu fahren, war Herbert X. bereits zum Wiederholungstäter geworden. Vom Fürsorgeheim wurde Herbert X. in die Jugendstrafanstalt überstellt.

Regelmäßig, drei- bis viermal jährlich, nämlich zum Muttertag, zu ihrem Geburt­stag und zu Weihnachten, kommt für Frau W. ein Geschenkpaket aus Johannesburg, Südafrika. Zudem bekommt Frau W. meistens zu Ostern oder sonst irgendeinmal während des Jahres eine Karte oder einen kurzen Brief von ihrem Sohn. Da schreibt er, dass es ihm gut geht, ebenso seiner Frau und den Kindern, dass er gut verdient, in diesem Jahr sogar mehr als im Vorjahr.
   Und er erwähnt, dass sein Haus am Stadt­rand von Johannesburg jetzt endlich fertig ist, dass sein Vertrag neuerlich verlängert worden ist, und er legt Fotos von seinen Kindern bei, die Frau W. noch nie gesehen, die sie noch nie auf ihrem Schoß sitzen gehabt hat.
   Und er schreibt, er hoffe im nächsten Jahr zu Besuch kommen zu können, dass sich das mit der Arbeit und dem Urlaub und dem Urlaub seiner Frau irgendwie wird vereinbaren lassen, dass es eben mit den Kindern noch schwer sei, weil sie doch noch zu klein für eine so große Reise seien, dass alles in ein paar Jahren viel leichter sein werde, und er schickt viele Grüße und Küsse – ebenso von Frau und Kindern.

In der Akte Herbert X. heißt es: „Die häuslichen Verhältnisse machten eine Heimunterbringung nötig. Für das Jugend­gericht steht nunmehr fest, dass der Ange­klagte durch wiederholte Übung einen deutlich erkennbaren Hang zu Diebstählen besitzt.“ Obwohl Herbert X. dem Alkohol­genuss seines Vaters einen Nasenbeinbruch verdankt, versuchte er wiederholt heim­zukehren. Offenbar zieht Herbert X. die Prügel seines Vaters der Eingeschlossenheit im Heim vor.
   Herbert X. kam sich in dem Heim wie ein Gefangener vor. „Im Knast kann es auch nicht anders sein“, dachte er. Herbert X. lernte. dass Eingeschlossenheit zugleich Ausgeschlossenheit bedeutet. Herbert X. liebte Wildwestfilme über alles, besonders solche mit Indianern.
   In der Jugendstrafanstalt lernte Herbert X. besser gehorchen und dass man sich seine Situation nicht aussuchen kann, dass man ihr ausgeliefert ist, zeitlebens, und dass man ihr nicht entkommen, sich nicht dagegen wehren kann. Herbert X. erkannte, dass es Leute gibt, die mehr Geld haben als sie zum Leben brauchen und dass es andere Leute gibt, die nicht genug zum Leben haben.
Frau W. denkt an den Briefträger. Wird er den Brief wieder zurückschicken? Wie viele Briefe wird sie wohl noch von ihrem Sohn erhalten? Wird der Briefträger dann den Brief mit einem Stempel versehen: Empfänger unbekannt verzogen /verstorben und verzogen durchstreichen, oder machen die das bereits auf dem Postamt? Wird der Sohn wieder nach Europa kommen? Der Sohn von der Nachbarin wird traurig sein, wenn er keine südafrikanischen Marken mehr bekommen wird.
   Frau W. stellte fest, dass sie ihre Erspar­nisse bis an ihr Lebensende nicht aufbrau­chen wird können, selbst wenn sie noch Jahre leben sollte. Frau W. stellte fest, dass sie ihre Rente, ihre Wohnung hat, dass sie zu Essen, zum Anziehen, dass sie alles hat, was sie zum Leben braucht.

Herbert X. will nicht einsehen, warum er als Maler- und Anstreicherlehrling in der Erziehungsanstalt so wenig bezahlt be­kommt, viel weniger als ein Maler- und Anstreicherlehrling außerhalb der Anstalt verdient. Man erklärte ihm, dass er neu beginnen und ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden müsse. Herbert X. fragte sich, was er getan oder nicht getan habe, dass er kein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft sei.
   Was er tun müsse, um ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden. Er müsse arbeiten, erklärte man ihm. Aber das tue er ohnehin. Herbert X. lernte, dass von denen, die immer genug bekommen, das Gerücht in die Welt gesetzt worden ist, dass Geld den Charakter verderbe.

Frau W. fasste den Entschluss, ihre rund 180 Golddukaten sowie 70.000 Schilling von ihren insgesamt 90.000 zu verschen­ken. 20.000 Schilling will sie sich zurückbehalten als Notgroschen. Frau W. geht auf die Bank, löst ihr Sparbuch auf und lässt sich das Geld in 500-Schilling- und 100-Schilling-Noten auszahlen.
   Den ersten Gedanken, das Geld einer wohltätigen Organisation zu schenken, ver­warf Frau W. sogleich wieder, da ihr alle Organisationen suspekt und zu anonym sind. Die Kirche schloss Frau W. von vornherein aus. Also entschließt sich Frau W., das Geld und die Golddukaten an Passanten zu verteilen, an Leute, die zufällig vorbeikommen. „Da sind bestimmt welche dabei, die das Geld eher brauchen als ich“, überlegte sie, „für mich ist es wertlos geworden.“
   Mit Schaudern denkt Frau W. daran, dass all ihre Ersparnisse in die Hände ihrer Verwandten fallen könnten. Die hätten es am allerwenigsten verdient und obendrein auch nicht nötig. Einen kurzen Moment stellt sich Frau W. vor, wie sich die Verwandten, diese kläffende Meute, um die Erbschaft raufen täten. Zu gerne würde sie sich dieses Vergnügen gönnen, wenn sie könnte. „Ich würde alles meiner Verwandt­schaft vermachen, wenn ich dabei zusehen könnte, wie sie sich drum streiten.“

Nach seiner Entlassung aus der Jugend­strafanstalt arbeitete Herbert X. am Bau, während die Mutter immer noch in der Konservenfabrik schuftete. Vater Staat ver­suchte, die Begräbniskosten des inzwischen verstorbenen Vaters von Herbert X. einzu­treiben, da die Mutter zahlungsunfähig war.
Herbert X. möchte sich einmal eine ordentliche Wohnung leisten und ein Auto. Die Mutter ist älter geworden und abge­arbeitet, richtig abgezehrt, bemerkte Herbert X. Er hatte seine Mutter jahrelang nicht mehr gesehen, genau seit jenem Tag, an dem die Fürsorgebeamtin ihn aus der Hausmeisterwohnung abgeholt hatte. Irgendwie sind Mutter und Sohn einander fremd geworden.
Herbert X. hatte die Feststellung gemacht, dass es Leute gibt, die andere bestehlen, sie um das bringen, was ihnen zusteht und dafür als außerordentlich tüchtig gelten. Hätte Herbert X. genügend Geld, könnte er sich ein schnelles Auto kaufen, das wäre eine richtige Freiheit, nicht das, was sich Freiheit nennt, dann könnte er einmal ordentlich einen ausgeben und er würde es all den Lahmärschen einmal so richtig zeigen, es ihnen beweisen, er, Herbert X., er, das letzte Arschloch Herbert X. Herbert X. fasste den Ent­schluss, sich zu nehmen, wo es genügend gibt.
Herbert X. fasste den Entschluss, eine Bank auszurauben.
Herbert X. hatte das Pech von einer versteckten Kamera bei seinen Aktionen gefilmt zu werden. Herbert X. war er­folgreich beigebracht worden, dass das Wichtigste im Leben eines Menschen der Besitz von möglichst viel Geld ist. Herbert X. war ein äußerst gelehriger Schüler, der sich merkte, was er einmal gelernt hatte.
Auf einer Bierkiste sitzend, verteilte Frau W. rund 180 Golddukaten an Passanten, die ihr sympathisch sind.
   Es dauerte nicht lange und ein Funk­streifenwagen war zur Stelle. Auch den Polizisten bot Frau W. („A Narrische“) Golddukaten an. „Kumm scho endlich, verruckte Oide“, sagte der Polizeibeamte zu Frau W. und packte sie am Arm. „Ob all jene, die ihr Vermögen der Kirche vermachten, ebenfalls als irr gegolten haben“, fragte Frau W. den Polizisten, der mit „moch kane Faxn, kumm“, sogleich eine erschöpfende Antwort auf diese Frage parat hatte. Eingeschüchtert bestieg Frau W. den Funkstreifenwagen.
   AUFGABE DER POLIZEI IST ES, DAS EIGENTUM DES EINZELNEN ZU SCHÜTZEN!
   In der Polizeidirektion wurde Frau W. vom Polizeiarzt untersucht und wegen Ver­dachtes auf Geistesgestörtheit in das Landeskrankenhaus eingewiesen.

Anhand des Films wurde Herbert X. rasch als Täter ausgeforscht und in der Hausmeisterwohnung seiner Mutter von Polizeibeamten verhaftet. Herbert X. erkannte, dass er immer noch nicht genügend gelernt hatte.
   AUFGABE DER POLIZEI IST ES, DAS EIGENTUM DES EINZELNEN ZU SCHÜTZEN!
Auf dem Polizeikommissariat wurde Herbert X. vom Untersuchungsrichter verhört und bis zur Verhandlung in das Landesgefängnis eingeliefert.

(1974)  

Die Karriere des Herrn Richard S.

Richard S. war durch und durch Kaufmann, ein Geschäftsmann mit Leib und Seele, ein Vollbluthändler. Richard S. handelte mit allem und jedem, kaufte und verkaufte; alles, was er anfasste, machte er zu Geld. Es gab niemanden, der – hatte er einmal die Unvorsichtigkeit begangen und mit Richard S. einige Worte gewechselt – nicht zu seinen Kunden zählte. Selbst seine Frau und seine zwei Kinder zählten zum Kundenkreis des Herrn Richard S.
Richard S. besaß kein eigenes Geschäftslokal und er dachte auch nicht im Träume daran, eines zu erwerben, denn nichts hasste Richard S. mehr als unnötige Anschaffungen, Ankäufe, die einem ein geschickter Verkäufer eingeredet hatte und die man letztlich bloß besitzt, um sie zu besitzen. Da Richard S. also kein eigenes Geschäftslokal besaß, wickelte er seine sämtlichen Geschäfte in Gasthäusern, Caféhäusern, auf der Straße und in Parkanlagen (bevorzugt im Sommer), in Autos, dem eigenen wie in fremden, und in den Wohnungen seiner Kunden ab.
Aufgrund seiner einmaligen Fähigkeiten als Verkäufer hatten bereits einige Großkaufhäuser Richard S. einen Posten als Starverkäufer angeboten: 20-prozentige Umsatzbeteiligung anstatt der üblichen zehn Prozent nebst einem garantierten Gehalt in einer Höhe, von dem die meisten Arbeitnehmer ihr ganzes Leben lang nur zu träumen wagen. Richard S. hatte jedoch jedes Angebot stets abgelehnt. Er pflegte dies damit zu begründen, dass er frei, sein eigener Herr und Arbeitgeber sein wolle. Mit ebensolcher Entschiedenheit hatte Richard S. auch mehrere Angebote abgelehnt, als Vertreter zu arbeiten. „Sie sind unser Mann“, hatte man ihm erklärt. „Sie sind zum Vertreter geboren und Sie können reich werden, wenn Sie für uns arbeiten, wir sind ein junges, dynamisches Unternehmen, das sich im Aufbau befindet. Wir stehen erst am Anfang einer unüberschaubaren Entwicklung, trotzdem sind unsere Umsätze und Gewinne heute bereits fantastisch und in unserer Branche einmalig und unübertroffen. Wir bieten Ihnen einen eigenen Dienstwagen, Zulagen und selbstverständlich eine Umsatzbeteiligung. Sie werden Ihren Entschluss, für uns zu arbeiten, niemals bereuen.“ Doch es gab nichts zu bereuen für Richard S.: Sein Entschluss stand unabänderlich fest:
Richard S. wollte reich werden, sehr reich sogar, schließlich war das sein höchstes Lebensziel, bloß wollte er reich werden, indem er für sich selbst arbeitete. Deshalb lehnte er sämtliche Angebote kategorisch ab, waren sie auch noch so verlockend, keine noch so vielversprechenden Zusicherungen waren in der Lage ihn umzustimmen: „Sie brauche ein Unternehmen, wie wir eines sind, und wir brauchen einen Vollblutvertreter wie Sie einer sind; ich mache keinen Hehl daraus; kommen Sie zu uns, überlegen Sie es sich nochmals gründlich.“ Doch es gab überhaupt nichts zu überlegen für Richard S. „Meine Freiheit geht mir über alles“, hatte er dem Personalchef des jungen, dynamischen Unternehmens erklärt. Und Richard S. blieb sein eigener Arbeitgeber.
„Das Geld liegt auf der Straße, man muss sich nur bücken und es aufheben“, war ein Leitspruch von Richard S.; mehr noch als das, es war seine Lebensphilosophie, seine Lebenswahrheit. Eisern hielt Richard S. deshalb auch an diesem, seinem Leitspruch fest, und das nicht erst seit heute, sondern bereits von seiner frühesten Jugend an. Sein erstes Geld hatte sich Richard konsequenterweise als Straßenverkäufer, genauer gesagt als Zeitungsverkäufer, verdient. Er war bei Schluss der Vorstellung in der Nähe des Theaters gestanden, hatte Fahrzeuglenkern blitzschnell die neueste Ausgabe ihrer Zeitung verkauft, wenn diese vor roten Ampeln auf ihre Weiterfahrt warteten; manche hatten aus lauter Eile vergessen, sich das Wechselgeld herausgeben zu lassen. Nachdem Richard dies erkannt hatte, machte er mit einem Polizisten halbe-halbe, wenn dieser im richtigen Augenblick die Ampel umschaltete. Der auf diese Art erzielte Gewinn war nicht unbeträchtlich. Später tat Richard S. diese Geschäfte als Jugendtorheit ab und kaufte und verkaufte Schiffsladungen Rohöl, ohne jemals ein Schiff aus der Nähe gesehen zu haben (mit Ausnahme eines zweisitzigen Ruderbootes); gleichzeitig handelte Richard S. auch mit Zement, Autos und Wein, aber auch mit Schuhen, Regenmänteln und Antibabypillen, die er zum größten Teil nach Italien exportierte. (Manche Leute behaupten, Richard S. sei ihn jungen Jahren Cowboy und Pokerspieler gewesen, doch dürfte es sich dabei um ein Gerücht handeln. Feinde und Neider von Richard S. hatten einmal sogar behauptet, Richard S. besäße ein texanisches Ölfeld, das er einstmals um den Spottpreis von einer Million gekauft, aus dem er inzwischen jedoch mindestens eine Milliarde hervorgeholt habe. Jedoch wir wollen diesen verleumderischen Gerüchten keinen Glauben schenken, denn wer hat schon eine übrige Million?)
Richard S. verschenkte niemals etwas, denn welche Veranlassung hätte er dazu gehabt? Alles, was sich verschenken lässt, lässt sich auch verkaufen. Weil also Richard S. niemals und niemandem etwas schenkte, bekam Richard S. auch niemals und von niemandem etwas geschenkt.
Umso verwunderlicher war es, als Richard S. eines Tages von einem Kollegen eine japanische Tanzmaus geschenkt bekam. Befragt nach den Gründen und Ursachen seines Geschenks, erklärte der Kollege, dass er ohnedies genügend habe, nämlich Tanzmäuse, außerdem durch einen neuerlichen Wurf neuerlich welche dazubekommen habe und bereits nicht mehr wisse, wohin damit, nämlich mit den Tanzmäusen, und er sich deshalb entschlossen habe, im weiteren auch bedingt durch den geringfügigen Wert der Tiere, einige Exemplare zu verschenken, gleichgültig an wen auch immer.
Auf solche Art und Weise ist Richard S. zu seiner ersten japanischen Tanzmaus gekommen, war er doch überzeugt davon, dass Nehmen seliger als Geben ist, was schließlich und endlich schon der Bibel steht; darauf konnte er alle Zweifler verweisen. Und weil doppelt genäht bekanntlich besser hält, konnte er noch auf eine alte Weisheit verweisen, die da besagt: Wenn man dir gibt, so nimm, wenn man dir nimmt, so schrei! (Wahrscheinlich ebenfalls aus der Bibel, denn die wussten damals schon, was richtig ist und was falsch. Die waren keinesfalls so dumm, wie man heutzutage oft anzunehmen versucht ist.)
Richard S. nahm also die geschenkte japanische Tanzmaus, brachte sie nach Hause und bewahrte sie in einer leeren Schuhschachtel auf. Es verging die Zeit, und Herrn Richards Kinder hatten ihre Freude an dem ungewöhnlichen Spielzeug.
Als nach einem neuerlichen Wurf jener bewusste Kollege neuerlich Tanzmäuse verschenkte, da er sich nicht anders zu helfen wusste, wollte er nicht an Tanzmäusen elendiglich zugrunde gehen, ersticken, von ihnen überflutet werden, bekam auch Richard S. wiederum eine geschenkt.
Solchermaßen gelangte Richard S. in den Besitz seiner zweiten japanischen Tanzmaus.
Es kam, wie es kommen musste: Es dauerte nicht lange, und die Tanzmäuse hatten sich mit lawinenartiger Schnelligkeit vermehrt; und es wurden immer mehr, nach dem Schneeballprinzip kamen täglich Neugeborene hinzu. Richard S. wusste bereits nicht mehr, wohin mit all den Mäusen. Eine Katze anschaffen wollte er nicht, und sie wie der Kollege verschenken, daran dachte Richard S. keineswegs, im Gegenteil, er witterte ein Geschäft größeren Umfanges: Er kaufte Bücher, wie „Nützliche Ratschläge für den Mäusezüchter – ein unentbehrlicher Helfer“, und begann die Sache systematisch und wissenschaftlich zu betreiben. Er vernachlässigte in der weiteren Folge seine übrigen Geschäfte, und obwohl er nur wenige Schillinge pro Maus bezahlt bekam, gingen seine Geschäfte glänzend.
Doch es kam, wie es kommen musste: Nach einiger Zeit war der Markt gesättigt. Jeder, der den Wunsch gehabt hatte, eine Maus zu besitzen, besaß inzwischen eine oder sogar mehrere. (Im Dutzend billiger!) Richard S. stand jetzt vor dem Problem, neue Absatzgebiete zu erschließen.
Und es kam, wie es kommen musste: Aufgrund seiner glänzenden Beziehungen, seiner einflussreichen Freunde und seiner außergewöhnlichen rhetorischen Fähigkeiten gelang es Richard S., die Regierung dahingehend zu beeinflussen, ein Gesetz zu erlassen, wonach der Besitz mindestens einer Tanzmaus für jeden Haushalt obligatorisch wurde.
Und es kam, wie es kommen musste: Obwohl das Gesetz nahezu lückenlos befolgt wurde, gab es trotzdem vereinzelte einige pflichtvergessene Staatsbürger, die sich strikte weigerten, eine Maus anzuschaffen, und dies mit der fadenscheinigen Begründung zu rechtfertigen versuchten, dass sie niemals und unter keinen Umständen eine japanische Tanzmaus benötigten, jahrzehntelang keine benötigt hätten und auch in Zukunft keine benötigen würden und dass sie einfach keine Lust hätten und keine Veranlassung sähen, den Profit gewisser Leute (damit meinten sie Richard S.) vergrößern zu helfen.
Derartige Gesetzesbrecher wurden unbarmherzig der Gerechtigkeit überantwortet.

(1974)

 
     
     
 
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