Publikationen - Leseprobe  
     
 
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Reisegeschichten
  Chobot bleibt
     
    Hrsg. v. Wolfgang Müller-Funk und Karin Zogmayer      
    2007: Weitra, Bibliothek der Provinz.      
    286 Seiten.      
    € 28,-      
           
           
               
 
     
 

Wolfgang Müller-Funk: Das Chobot bleibt

 
   
 

Es ist einprägsamer Name, vorne deutsch und hinten slawischer Herkunft; wenn nicht das abschließende, ultimative t am Ende stünde, sondern der soviel offenere Krächzlaut vom Anfang, dann läse sich der Nachname von hinten wie von vorne gleich. Dann wäre der Name Nonsens, so wie das am Anfang von Manfreds literarischer Karriere als Sprachexperimentator in den Spuren der Wiener Gruppe fast wittgensteinianisch der Fall ist. Wenn ich dem Wort einen Sinn zu geben hätte, dann würde ich an einen Faun denken oder an einen ebenso freundlichen Vogel, einen Uhu oder auch einen Raben, ein Tier, das lacht, auch wo es ganz schön böse ist, das aber nicht, wie so viele andere Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, programmatisch böse auf die Wirklichkeit ist, weil sie so ist wie sie ist. Mit dem Kafkaschen Geier ist das Chobot bestenfalls stiefverwandt. In jedem Fall gilt die Devise des Autors: Das Chobot bleibt, heißt es programmatisch in dem 1985 bei Grasl in Baden erschienenen Gedichtband Krokodile haben keine Tränen. Der Löwe kann alles, hat Günther Nenning, das enfant terrible der österreichischen Intellektuellenszene über Chobot geschrieben. Das Chobot ist keine einzelne oder einzige Gattung, sondern eine ganze Menagerie.
Im literarischen und intellektuellen Leben gibt es viele Menschen, die über eine ganze Anzahl von Jahren einander mehr fern als nah sind, denen man immer wieder begegnet, von denen man hie und da etwas liest, denen man bei irgendeinem Empfang, irgendeiner Lesung, irgendeiner Veranstaltung freundlich zunickt, mit denen man kurzfristig im Kontakt steht, der dann indes mit dem flüchtigen Anlass wieder versiegt, ohne dass ein unfreundliches Wort gefallen wäre. So etwa würde ich meine Beziehung zu Manfred beschreiben, die Jahre lang auf die Aktivitäten der Zeitschrift Podium und des dazugehörigen Kreises beruhte, dessen gleichsam unpoetisches Mitglied ich auf wiederum umwegige Weise wurde, nämlich durch die Vermittlung des Lyrikers Hans Raimund. Dem losen- freundlichen Kontakt verdankt sich auch der Umstand, dass ich mich in diesem Zusammenhang zweimal als Texter von Gedichten versucht habe.
Der Ort der näheren Bekanntschaft war ein Kunstsymposion, bei dem wir eines gemeinsam hatten; nämlich dass wir eigentlich nicht dazugehörten und doch irgendwie willkommen, beide durchaus nicht unbeliebte Außenseiter waren, wir die Sprachakrobaten unter den Schweige-Künstlern, wir die Textmacher unter den Strich-, Bild-, Film- und Farbspezialisten. Eine Atmosphäre, wie sie für eine ganze Generation und wohl darüber hinaus eigentümlich war und ist, zwischen Alternativkultur und Boheme, mit langen Abenden und langen späten Frühstücken im Grünen. Eine windig gewordene, weil Wind und Wetter ausgesetzte (Hollywood-?) Schaukel im Freien. Das Podest für den Schriftsteller. Manfred erzählt, sehr versiert, von seinen Reisen nach Hawaii, von Ananas und Zucker, von Geschäftemachern und Projekteuren, deutschen und amerikanischen, von der Abgelegenheit der entfernten Insel und vom Krieg. Vom Aberwitz von Kolonialismus und Postkolonialismus. Mit sicherem Gespür für das Detail, unverkennbarer Lust am Erzählen, Sinn für Humor, eine genuin österreichisch temperierte Mischung aus Feuilleton und Kurzprosa, verpackt in ein durch Reflexion durchbrochenes Erzählformat. Einige der Geschichten sind – auf ausdrücklichen Wunsch des Herausgebers – in diesem Lesebuch versammelt.
Ganz richtig, das Kunstsymposion fand in Italien statt, nicht aber in der Toskana, sondern in einem abgelegenen Winkel des Trentino, wo Italien noch sehr grün und alpenländisch und österreich-nah ist und wo sich die schrecklichen Schlachten des Ersten Weltkriegs ereignet haben, denen wir zwei meisterhafte Geschichten aus der Feder Musils verdanken. Zu diesem Aufenthalt gehören für mich auch die kleine Stadt Borgo mit ihren Kaffeehäusern und ihren Fensterwelten und ein wahrlich altes Haus mitten in der verwinkelten Stadt, das einer alten Wiener Dame gehört, in denen die Symposiantinnen und Symposianten das Werk ihrer acht Tage ausstellten (einige von ihnen sind hier mit bildnerischen Beiträgen vertreten) und die schon erwähnten Wort- und Mundwerker – welch unverdiente Ehre für mich, den Dilettanten – sich als Vorlesende betätigten. Da einige der Anwesenden, darunter die Trafikantin und ihre Schwester Deutsch nicht verstanden, musste die Gastgeberin auch noch als Übersetzerin agieren, aber Manfreds vernehmliche lyrisch-erzählende Stimme hätte sie wohl auch so erreicht. Denn Manfred versteht – im besten Sinn des Wortes – etwas von Präsentation. Im Fachjargon unserer Tage heißt dies im Gefolge des so genannten performative turn: performative Kompetenz. Diese Meisterschaft hat Manfred auch in einigen digitalen Tondokumenten konserviert.
Vom einschlägig geschulten Literaturtheoretiker wird allgemein Kritik, Interpretation und Analyse eingefordert, die doch zugleich von den literaturwissenschaftlich so behandelten Autorenwelt einigermaßen verabscheut wird und dort als überheblich und hochfahrend, ja schlimmer noch als literaturfremd und anmaßend, eingestuft und punziert wird.. Dass sie so ist, wie sie ist, hat die Germanistik, hat die Literaturkritik zum Gottseinbeiuns der Autoren gemacht. Dass ich solcherlei Tun unterlasse, hat indes nicht mit Feigheit zu tun, sondern eher mit einer Freundschaft, in der natürlich – implizit – Wertschätzung steckt. Wertschätzung für eine Person und ihre spezifischen Leistungen. Ansonsten fehlt mir an dieser Stelle der Wille zur Distanz und das hat auch mit dem Anlass zu tun.
Was in dem Lesebuch zu lesen ist, das sind 40 Jahre Chobot. Indes man feiert noch immer die biographisch-standesamtlich verbürgten Geburtstage, nicht die Autoren-Jubiläen. Dass er ein geselliger Autor ist, der gleichsam im Feld des Literarischen, mit Wegbegleitern und -begleiterinnen schreibt, das ist in diesem Band ebenso belegt wie eine ganze Epoche österreichischer Literatur – vom Avantgardismus der Sprache, dem Spiel mit den Signifikanten, über Gebrauchsprosa, Mundartgedichte, Stadtgeschichten, Reiseliteratur, moderne Liebeslyrik bis zum Experimentieren mit Sinn und Buchstäblichkeit, mit Schrift und Bild im Kontext mit Künstlern und Künstlerinnen.
Chobot ist ein Routinier der kleinen Form, in der Prosa wie in der Lyrik. Langes Ausholen, Weitschweifigkeit und Geschwätzigkeit liegen ihm nicht. Die österreichischen Buddenbrooks wären kein Projekt für ihn, viel eher das, was so ungeheuer simpel klingt und vielleicht das Schwierigste ist: die knappe Sentenz, ein Einfall, ein Satz, der alles erhellt. Immer kann das schwerlich gelingen, aber dann sehr wohl wie etwa das 15. Kapitel jener deutschen Grammatik, das sich mit den persönlichen Fürwörtern befasst und in schräg abfallenden Linien „ich du er sie“ präsentiert, um dann mit der Wortfolge fortzusetzen: „jetzt ist es so weit“. Kluge akademische Köpfe, Linguisten und Sprachtheoretiker könnten über diesen Einfall seitenweise schreiben und zugleich ganze linguistische Theorien exemplifizieren, weil hier die Sprache gleichsam aus dem Rahmen fällt, die Ebene wechselt und zugleich noch einen blendenden Einfall über die Zeit impliziert, über jenes trügerische Jetzt, das immer schon vorbei ist.
Eine Ökonomie der Verknappung und der Lakonie liegt ausgebreitet vor uns, in der die Sorge mitschwingt, es könnte zu viel gesagt werden. Angesichts der Fülle der Worte und Bilder in der modernen Alltagswelt ist diese Ökonomie von einer kritischen Intention getragen, ohne dass sich Chobots Oeuvre manieristisch oder hermetisch aus der Welt der symbolischen Formen und politischen Kämpfe verabschieden würde, die der von Chobot herausgegebene, 1982 bei Löcker publizierte Band Friedensmarsch sinnfällig macht.
Ich weiß, dass die verfänglichsten, ja gefährlichsten Sätze so beginnen und beginne ihn trotzdem so: Chobot ist ein literarischer Projekteur, ein Projektemacher in eigener Sache wie im literarischen Feld insgesamt. Davon zeugen eine Dialektik-Anthologie ebenso wie die Sammlungen zu Lyrik und Satire und vor allem seine langjährige Arbeit als Leiter der Zeitschrift und Literaturgruppe Podium, bei der es, wie immer wo verschiedene Menschen mit vermeintlich gemeinsamen Anliegen, also vor allem Kunstschaffende, zusammenkommen, durchaus unfreundlich, konkurrenziell und hinterhältig zuzugehen pflegt. Die Geschichte der Avantgarden aus dem Geist der Intrige und der Eifersucht ist noch nicht geschrieben.
Vereinfacht gesprochen, gibt es zwei Typen von künstlerischen und literarischen Menschen, die einen, die wie besessen um ein und denselben thematischen Fokus kreisen, von dessen Sogkraft sie wie gebannt sind, die anderen, die immer wieder neu anfangen (können). Wie Helmuth Schönauers Lesemitschriften,  beeindruckenden Komprimaturen eines beeindruckten Lesers, der im Sinne Ecos ein Autor ist, zeigen, gehört der Autor, bei aller Konstanz, bei allem Bleibendem im Chobot, einer, der immer wieder neu ansetzt, das vorhergegangene Projekt abschließen und beenden kann, um sich freizumachen für ein neues. Sprachexperimente, literarische Versuche über Wahnsinnsberufe (Der Gruftspion), die von Alfred Hrdlicka illustrierten Briefe der Leopoldine Kolecek, oder – um ein ganz junges Werk nach  dir dort zu zitieren – Liebeslyrik, die vom Ernst des Spiels und vom Spiel des Ernst handelt. Daneben haben auch der Sport, die Politik, Essen & Trinken Eingang in das literarische Panoptikum des Autors gefunden. Besonders gefallen mir die Spreng-Sätze und die frühen Projekte. Das listige und hintersinnige Lamento über die „himmelschreiende Schande, dass das „winzige Österreich“ ein ebenso großes Fußballtor hat wie großen mächtigen Staaten dieser Welt, hat nicht nur wegen der unmaßgeblichen fußballerischen Leistungen des ÖFB-Teams an Aktualität kaum eingebüßt. Lachen muss man auch über den Vorschlag, Bundesheersoldaten als Gondolieri einzusetzen und Chobots Beitrag zu einer alternativem Energiekonzept, das die bisher ungenutzte menschliche Abstrahlungswärme ins Visier rückt – ein Vorschlag, der natürlich ohne die Spät-68er Ära und frühgrüne Phantasmen unverständlich bleiben muss. Lachen über die anderen ist nahe liegend, Lachen über sich selbst zeugt von Urbanität und Esprit.
Kleinformen, die oftmals ihre verlegerische Heimat in den kleinen, ambitionierten Verlagen dieses unseres kleinen Landes gefunden haben. Das vorliegende Lesebuch, das eine ganze produktive Periode österreichischer Literatur am Beispiel eine einzigen Autors fokussiert, liest sich auch wie ein Who is who all jener Verlage, die, stets am Rande des Existenzminimums, den literarischen Aufbruch seit den 1960er Jahren begleitet haben. Eine ganz Verlagsgeschichte tut sich hier auf, die noch nicht geschrieben ist und die zu schreiben doch wesentlich wäre, um das literarische Feld (Bourdieu) dieses Landes, seine ungeheure Polyphonie einigermaßen verlässlich zu sondieren, durchaus eine Aufgabe für eine junge Germanistik.
In kleinen, alternativen Verlagen zu publizieren setzte und setzt einen Akt der Widerständigkeit. Schon von daher ist es selbstredend unstatthaft, die österreichischen Autoren  nach Maßgabe ihrer Verlagszugehörigkeiten qualifizieren zu wollen. Dem zuweilen erbittert geführten Kampf der zwei Linien soll hier nicht das Wort geredet werden: Suhrkamp und andere deutsche Verlage gegen den Rest der österreichischen literarischen Welt. Das Suhrkampsche Adelsprädikat ist kein literarisches Gütesiegel per se – auch wenn es ein Ansehen generiert, das beträchtlich ist. Umgekehrt hat die österreichische, die deutsche und die schweizerische Literatur nach 1968 diesen kleinen besessenen, größenwahnsinnigen und ambitionierten Verlagsmenschen, die in Nischen ermöglichten, was sonst unmöglich gewesen wäre, nicht nur einiges, sondern Etliches zu verdanken. Etablierte Verlage sind nicht selten die Opfer einer oft engen Spartenpolitik und eines von den maßgeblichen Medien flankierten Durchschnittsgeschmacks. Freilich sind wir im literarischen Betrieb noch nicht so weit gediehen, wie im Bereich der österreichischen und internationalen Weinkultur, wo beinahe ausschließlich der kleine feine Betrieb  Exquisitheit verbürgt, während wir die Erzeugnissen der Lenz-Moser, von den der mediterranen Weinfabriken ganz abgesehen, naserümpfend die Massenware zuordnen können. Das hängt mit einem kritischen Punkt der Kleinverlage zusammen: ihrer mangelnden Professionalität in Produktion und Distribution. Am fehlenden Vermögen der Durchsetzbarkeit.
Eine Gegenrechnung stimmt gewiss nicht: hier die authentischen Autoren, die in Österreich profilieren, dort die anderen, die sich den deutschen Großverlagen unterwerfen und ihre kritische Intention ermäßigen. Vermutlich gibt es auch hier mehr als zwei Optionen: es könnte tatsächlich Autorinnen geben, die sich mit Bedacht kleine Verlage gewählt haben. Dabei befinden sie sich – man denke nur an heute so unbestrittene Autoren wie Kafka, Broch oder Canetti – in keiner schlechten Gesellschaft.
Jedenfalls muss man es als programmatisch ansehen, wie und wo Manfred Chobot sein Werk publiziert und verbreitet hat. Ein umfangreiches Werk, das sich aus vielen kleinen Teilen zusammensetzt; jedes der einzelnen Werke hat seine eigenen Spielregeln, produziert auf ganz eigene Weise Mitschreibende, Mitlesende, Mitmachende, Mitfühlende, vor allem aber auch Mitlachende. In jedem Fall sind diese Texte, Einladungen an das Publikum aktiv zu werden, etwa beim Sprengen von Sätzen. Mehr vielleicht als andere Künste, ist die Literatur ein Spiel, das Regeln vorgibt, nicht explizite wie bei Fußball oder Schach, aber doch impliziten. Der Spielcharakter tritt in diesem Werk doppelt hervor, in der Lust des Autors am Spielen mit Sätzen und Gedanken, aber auch in den spielerischen Textanordnungen, die damit rechen, dass der Leser ins Spiel kommen muss, wenn die Texte funktionieren sollen. Literatur ist auch ein abstraktes, selbstbezügliches Spiel der ästhetischen Kommunikation. Ein Text ist nicht ein Objekt, wenn dies auch der verdinglichte Charakter des Buches es suggeriert, sondern, wie es Barthes und Eco nahe legen, ein ästhetisches Medium, das ein Spiel mit Bedeutungen eröffnet. Hochgestochen formuliert, ein Spiel (in) der Semiose.
Das darf nicht mit der naseweisen Neugierde für das Leben, das hinter dem Werk steht, in Zusammenhang gebracht werden. Das Bilderverbot, das die moderne Literaturtheorie über den Autor verhängt, besteht zu Recht. Denn selbst wenn er und sie im Spiel medialer Präsentationen und Repräsentationen ihren Auftritt haben, so handelt es sich dabei gerade um das Gegenteil von Authentizität: Inszenierung.
Dieses Bilderverbot, das Distanz zum Autor einschließt wie das Akzeptieren der Spielregel, wonach Literatur eine ästhetisch vermittelte Form von Kommunikation darstellt, braucht nicht dogmatisch verfolgt werden, schon gar nicht, wenn es sich um ein Lesebuch und um einen runden Geburtstag handelt. Gerade in die autobiographischen Texte ist diese Reflexion mit eingeschrieben. Nur wer nicht weiß, wie schwer es ist, über sich zu schreiben, schreibt munter drauf los. Es ist zum Beispiel schwer, wenn nicht gar unmöglich, uneitel zu sein. Chobot weiß darum. Aber immerhin, man kann sich als eine Art von Zeitzeugen behandeln, so wie das Chobot tut, wenn er beschreibt, wie er zum ersten Mal mit Dagmar in einer Bar sitzt und Eric Burdon hört oder vom Vorstoß des Vaters berichtet, die abgeschnittene Haarpracht mit dem Judaslohn von tausend Schilling zu belohnen. Spuren führen uns auch ins Akademische, dem sich die Freundschaft mit Manfried Welan, dem langjährigen Rektor der Universität für Bodenkultur, verdankt. Das sind episodische und unspektakuläre Streifzüge durch die eigene Lebensgeschichte, hinter der ein ganz kultureller Hintergrund aufleuchtet.
Jedenfalls gibt es die Haarpracht ebenso wie Dagmar, die Galerie, die Bücher. Sie sind keine Simulationen. Und vor allem ist Manfred ein Sammler, von Menschen, von Büchern und vor allem von auserlesenen Zigarren, all dies und sehr viel mehr lässt sich in diesem Lesebuch erfahren. Dass man Stellung beziehen kann, ohne die krankhafte Sucht, immer Recht zu haben, das Maß aller Dinge sein zu wollen. Von den Balancen des Lebens zwischen einer Bonhomie, die irgendwann lächerlich wird, und einer Bürgerlichkeit, die immer schon mit sich Frieden geschlossen hat.
So steht diese bunte uneinheitliche Reihe von Büchern in einem Regal in meiner Bibliothek versammelt, ein kleines spielerisches Imperium, das mich einlädt einzutreten. Ein Privileg und Vergnügen, ein Freund dieses Spielleiters von Sprengsätzen, ironischen Reformprojekten und anderen symbolischen An- und Abordnungen zu sein. Wie dieser Band sinnfällig macht,  hat Manfred viele Freundinnen und Freunde, prominente und weniger prominente, und darüber hinaus – und das ist das eigentlich Bemerkenswerte – sehr verschiedene.

 

Dieses Lesebuch wurde vom Jubilar in Zusammenarbeit mit Karin Zogmayer und mir zusammengestellt. Karin Zogmayer, die auch die Bibliographie zusammengestellt und wichtige konzeptuelle Ideen eingebracht hat, gebührt dabei Dank und Anerkennung für die Moderation eines Prozesses, der hinter einem solchen Lesebuch mit einer so großen Anzahl von Beiträgen steht. Eines Prozesses, der auch mit Geduld, einer spezifischen Form von Leidensfähigkeit, zu tun hat.


Carl Aigner

 

Manfred Chobot „BILD-GEDICHTE“
Zur Ausstellung im Wiener Literaturhaus, 4. Dezember 2002 – 14. Jänner 2003

Manfred Chobot, Herausgeber der Reihe „Lyrik aus Österreich“ und Mitbegründer des „Ersten Wiener Lesetheaters“, lebt als freier Schriftsteller in Wien. Auf zahlreichen Reisen hat er Eindrücke gesammelt und in seinen Texten verarbeitet. Bisher unbekannt sind seine Photographien, eine Sammlung von überraschenden Hervorhebungen aus dem Alltag – Bild-Gedichte –, die eine weitere Facette dieser Eindrücke eröffnen.
Wir kennen alle den Satz „Das ist ein Gedicht“, aber was ist ein „Bild-Gedicht“? Und was ist ein „Bild-Gedicht“ bei Manfred Chobot? Schon in der ersten Publikation des Künstlers aus den siebziger Jahren spielt das Bild als Photographie eine gewichtige Rolle. Anhand von vier ausgestellten Zyklen ließ sich sein photographisches Werk ein wenig näher betrachten.
Peter Handke hat in seinem Buch „Die Lehre der Sainte-Victoire“ geschrieben, dass es den bildenden Künstlern immer um den „Augenstoff“ geht. Dieser Begriff des „Augenstoffes“ ist sehr signifikant in diesem Bildwerk Chobots. „Augenstoff“ meint nicht den Inhalt, sondern auch die formale Umsetzung. Etwas, das man gerade angesichts der Photographie nicht übersehen darf: den Blick, das Betrachten, das Schauen.
Die Frage ist: Wie kann ein Gedicht zum Bild werden? Nun – sowohl ein Gedicht (und damit jeder Text) als auch ein Bild, insbesondere eine Photographie, „arbeitet“ mit dem, was u.a. Jacques Lacan „Signifikanten“ genannt hat.
Die Arbeiten von Manfred Chobot stehen in einer großen bildnerischen Tradition, die vor allem mit Marcel Duchamp beginnt, mit den ready mades, mit Funden. Verkürzt kann man sagen, dass jede Photographie zunächst einmal ein visueller Fund ist, vor allem die klassisch verstandene Photographie in ihrem dokumentarischen Charakter. Es geht also um Funde, um visuelle Funde, es geht um „Augenfunde“ im Sinne des „Augenstoffes“ und es geht auch um „Augenblicklichkeit“. Durch diese Augenblicklichkeit kann man einen ersten Bogen zum Begriff des Gedichtes schaffen.
In den Arbeiten von Manfred Chobot gibt es zwei Verfahrensweisen, die wir in der Literatur seit Sigmund Freud kennen: das Moment der „Verdichtung“ einerseits und jenes der „Verschiebung“ andererseits. Verdichtungen sind in diesen Bildern als eine Art semantische Aufladung zu verstehen. Die Verschiebungen kann man derart begreifen, dass ein Ding, ein Objekt, an und für sich betrachtet, schon eine bestimmte Bedeutung hat, die aber in Verbindung mit diesen Arbeiten in skurriler Weise verschoben und in einen ganz anderen Zusammenhang gestellt wird. Wie wichtig diese Art des Arbeitens bei Manfred Chobot ist, lässt sich auch an seinen Texten erkennen, an seinen Bildtiteln, die in jeder Hinsicht „Bild-Gedicht-Titel“ sind, die aber auf der anderen Seite auch diese Bilder aufladen, ohne dass sie allzu sehr Faktisches preisgeben.
Es geht also um Piktoralität, die Bildlichkeit von Schrift, von Texten, auf der einen Seite und auf der anderen um Textualität, die Schriftlichkeit von Bildern. Die Frage ist: Wie kann ein Bild zur Schrift werden in einem buchstäblichen Sinn, ohne dass es Schrift wird, sondern als Bild verharrt. Manfred Chobot versucht, diese Funde, die Welt der Dinge, die Welt der Objekte, als so etwas wie Schrift zu begreifen, in dem Sinn, dass sie uns Spuren hinterlassen, und wir kraft dieser Spuren zu ihrer Lesbarkeit gelangen können. Die Photographie ist in der Geschichte der Bilder eine Schrift – nämlich die Schrift des Lichtes. Photo-Graphie heißt nichts anderes, als das Einschreiben des Lichtes in eine Substanz, woraus ein Bild resultiert. Darin lässt sich auch „Spurensicherung“ sehen, die Manfred Chobot betreibt. Über die Entdeckungsarbeit des Blicks scheint der Betrachter zufällig zu einem Resultat zu gelangen. Nicht etwas, das augenfällig ist, obwohl die Art und Weise, wie die Bilder präsentiert werden, dies glauben lässt. Beim genauer Hinschauen wird klar, dass es der Blick des Künstlers ist, der sie Momente vorgegeben hat, die man von Innen heraus sehen muss und die man selbst nicht sieht, auch wenn man davor steht. In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Repräsentationsstrategie des photographischen Werkes von Manfred Chobot: Buchstäblichkeit des Bildes als eine Arbeit der Wahrnehmung, als eine Arbeit des Wahr-Nehmens im Sinne eines Für-wahr-Nehmens, damit die Dinge zu ihrer Existenz gelangen. Eine „Ver-Rücktheit“ durchzieht das Werk, in dem ständig die Blicke des Betrachters ver-rückt werden. Das verstanden Geglaubte sieht im nächsten Moment ganz anders aus. Das ist die poetische Arbeit im Werk von Manfred Chobot.
In seinem literarischen Werk hat Manfred Chobot etwas gemacht, was seit Marcel Duchamp ganz wesentlich ist, nämlich die Sprache als Material zu begreifen und nicht als absolute Form, vielmehr als etwas, das man bearbeitet und unablässig verschieben muss. Dermaßen kann die visuelle Welt, wie wir sie wahrnehmen, auch mit der Photographie gestaltet werden. Die Photographie bearbeitet die sichtbare Welt, was eine Dimension eben in dieser Ver-Rücktheit eröffnet und vielleicht der wichtigere Weg ist. Wir sind darauf fixiert, dass die Photographie die Wirklichkeit wiedergibt. Die Photographie ist in der Geschichte der Bildmedien jenes Medium, das uns zum ersten Mal etwas sichtbar macht, was wir mit bloßem Auge gar nicht sehen können. Darin liegt das Unheimliche der Photographie. Diese Arbeit des Sichtbarmachens von etwas, das sich vor unseren Augen befindet, obwohl wir es dennoch nicht sehen, ist ein weiterer ganz wichtiger Aspekt in den Zyklen von Manfred Chobot.

 

Erstabdruck in Eikon. Internationale Zeitschrift für Photographie und Medienkunst. Heft 41, Wien 2003.


Helmuth A. Niederle

 

Einbegleitung zur Lesung von Manfred Chobot
aus „nach dirdort“, Gedichte und BildGedichte

Wer vermöchte ernsthaft zu bezweifeln, dass Themen nicht erfunden werden müssen, wenn die Augen bereit sind, die Absonderlichkeiten des Alltags zu sehen? Wer sich bloß darauf beschränkt gewissenhaft festzuhalten, was ihm, getrieben von unerschöpflicher voyeuristischer Lust, die Augen zeigen, der hat ein Leben lang zu tun.
Manfred Chobot geht mit offenen Augen durchs Leben und findet merkwürdige, groteske Zusammenstellungen von Gegenständen, die prima vista gar nichts miteinander zu tun haben, secunda vista aber sich als die Vorder- und Rückseite derselben „Medaille“ erweisen. Ein photographischer Blick in die Auslage eines Buchgeschäfts zeigt diese scheinbare Widersprüchlichkeit: Unter einer dem Papst Johannes Paul II gewidmeten Biographie steht ein Buch über die amerikanische Sängerikone „Madonna“. Der Papst huldvoll lächelnd, kennte man ihn persönlich, ließe sich vielleicht behaupten, das Lächeln sei nicht huldvoll, sondern verschmitzt, als wüsste er, was er seiner Klientel schuldig ist und weil er das weiß, liefert er das Gewünschte routiniert. Wie auch immer! Doch just unter dem Konterfei des eiligen Vaters, der sich unermüdlich für die Reinheit der Sitten aussprach, befindet sich das Buch über Madonna, die ihren Körper einzusetzen weiß und durch die Andeutungen von Sexualakrobatik in ihren Videoclips eine Bekanntheit erreicht hat, die sie allein durch ihre Stimme nicht erreichen hätte können. Auf dem Cover prangt ihr Gesicht, die Augen sind herausfordernd auf den Betrachter gerichtet, der Mund ist leicht geöffnet, damit sie ihren kleinen Finger hineinschieben kann, ein Bild, das auf etwas ganz anderes zu verweisen scheint, doch dieses andere wird nicht gezeigt. In dieser Auslage treffen einander zwei Medienstars, wie sie gegensätzlicher nicht sein können, doch das macht nichts, der Markt bringt die beiden zusammen und bietet sie einträchtig nicht Schulter an Schulter, sondern Konterfei an Konterfei zum Verkauf an.
Chobots Photos sind keine Illustrationen zu den Gedichten, sondern über die Sprache hinausgewachsene Literatur.
Die vom Markt geprägte Mentalität „alles ist möglich“, weil der Ladentisch die Gegensätze nicht nur aufhebt, sondern versöhnt – nach dem Gebrauch landet alles in demselben Recyclingprozess –, bringt Manfred Chobot in einem Gedicht auf den entscheidenden Punkt. Dieser kleine Text kann als Angelpunkt des gesamten Buches verstanden werden:

hexenzweimalzwei

das zauberwort
heißt längst
nicht mehr
simsalabim
hokuspokus
abrakadabra
oder so ähnlich
sondern einfach:
PR

Wenn PR die Welt aus ihren Nöten herauszaubern kann, dann spricht doch nichts gegen unser unersättliches natürliches(?) Verlangen, sich dem Voyeurismus hinzugeben, oder?

 

Österreichische Gesellschaft für Literatur, 17.11.2005


Richard Christ

 

Unmethodische Erinnerungen angelegentlich des 60. Geburtstags des P.T. m. ch.

Erste Erinnerung, betrifft Verzehr von Speiseeis

Ich hätte nicht für möglich gehalten, daß ein Mensch so viel Gefrorenes zu sich nehmen kann. Mit m. ch. lernte ich einen Eis-Süchtigen kennen, der immerzu Appetit darauf verspürte: beim Dichten, beim Spazierengehen, beim Diskutieren, beim Musikhören, beim Heurigen, auch beim Beischlaf (vermute ich, kann aber keine Belege beibringen), mithin bei allen Lebensäußerungen, wie sie in jüngeren Jahren unser Dasein ausfüllten. Einmal hatte er den Einfall eines Wettessens; wir holten in einem renommierten Eis-Salon am Schwedenplatz für jeden eine Isolierbox, Fassungsvermögen ein volles Kilogramm, ließen sie nach Gusto füllen: Vanille, Erdbeer, Malaga, Stracciatella, zig Portionen. Daheim rüsteten wir uns mit zwei Eßlöffeln aus, eine zufällig vorbeischauende Freundin betrauten wir mit der Zeitnahme und statteten sie mit einem Teelöffel aus, sie verzehrte jedoch kaum eine Kinderportion. Der Eisgierige und ich gaben uns Kugel um Kugel. Als mir schien, daß ich von der Mitte her zu erstarren beginne, erinnerte ich mich einer Flasche Bjeli Aist in meinem Reisegepäck. Die Glas um Glas bewirkten Zwischeneiszeiten ermöglichten die Fortsetzung des Wettbewerbs, die Freundin nahm bei jeder Runde einen Teelöffel Kognak – als beide Eisschachteln und die Flasche leer waren, bemerkten wir, daß das Mädchen auf dem Teppich eingeschlafen war, die Stoppuhr in ihrer Hand tickte noch – wir einigten uns auf unentschieden, und daß wir gelegentlich einen Stichkampf veranstalten müßten. In welchem Lebensjahr unseres Jubilars diese nach der Wahrheit protokollierte Geschichte stattfand, läßt sich ermitteln mit Hilfe des moldauischen Kognaks „Weißer Storch“, der in der DDR angeboten wurde, als Wirtschaft und Außenhandel noch nicht gänzlich zerrüttet waren, es müßten also die Siebziger des vorigen Jahrhunderts gewesen sein. Der Stichkampf steht bis auf den Tag noch aus.

 

Zweite Erinnerung, betreffend die Grundvoraussetzungen fürs Leben

m. ch. war vor Zeiten gemeinsam mit Wiener Kollegen vom Berliner Schriftstellerverband zu Lesungen eingeladen, so lernten wir uns kennen. Bald darauf erhielt ich ein Stipendium für einen Aufenthalt in Wien und eine kostenfreie Unterkunft in einem der Hochhäuser des neuen AKH. Auf meinem Flur, oberste Etage, wohnte medizinisches Personal aus Asien. Mein Geruchsinn half mir die Nachbarn ihren jeweiligen Heimatländern zuzuordnen, denn ich erinnerte mich untrüglich, wie es in einer Küche riecht, wo Südinder ihre Curries zubereiten, Pakistani ihre Hammelgerichte, Ceylonesen ihre Hoppers. In meiner eigenen Küche gab es nichts zu schnuppern. Mir fehlte nicht nur der Ehrgeiz am Herd zu brillieren, sondern auch jedes Küchenzubehör. In meinem kleinen Appartement hatte vor mir ein Arzt aus China gewohnt, seine einzige Hinterlassenschaft in den Einbauschränken bestand aus Kognakschwenkern und Akupunkturnadeln. Ich sandte einen Hilferuf an meinen Freund, ohne Verzögerung erschien er und wuchtete zwei Behältnisse aus dem Lift. Im ersten Teller, Tasse, ein Besteck. In der zweiten Kiste? Er öffnete sie und erklärte: Gehört zur Elementarausstattung jeder Küche wie eines jeden Lebens – eine Kiste voller Doppler, weiß und rot. Einen Korkenzieher entnahm er der ersten Kiste. Ich holte die Kognakschwenker ...

 

Dritte Erinnerung, betrifft die gemäße Frühstückszeit

Jahrelang nahm ich Quartier in einem Mietshaus in Ottakring, des Heiligen Römischen Reiches größtem Wirtshaus, heute lebt man in diesem sechzehnten Wiener Bezirk eher wie in der Türkei. Das Mietshaus hatte m. ch. von seinen Eltern ererbt, großzügig bot er mir darin eine Bleibe, die schon vor dem Kollaps der DDR zu meiner zweiten Adresse wurde, es war die Dachwohnung seiner Knabenjahre. In dem sehr geräumigen Bad hing eine Serie kleinformatiger Radierungen, die eine üppige Matrone bei den detailliert erfaßten Handgriffen ihrer Toilette zeigte. Ich betrachtete die Darstellungen mit Wohlgefallen, in der Erinnerung scheinen sie mir heute wie ein Keimpunkt der später reüssierenden Galerie Yppen. Oft, wenn ich nicht auf der klapprigen Conti tippte, die zum Inventar gehörte, schaute ich aus einem der Fenster in das tiefe Hofgeviert, wo ein Essigbaum die Zweige emporstreckte bis zur Dachtraufe. Viele Dutzende Fenster mündeten auf den Hof, eines davon schnitt sich in die Dunkelheit als grelles gelbes Rechteck. Da unten, wußte ich dann, wird jetzt gedichtet, und wie ich bald begriff, prinzipiell in den Nachtstunden. Unsere erste Verabredung zum Frühstück war ein Flop. Ich klopfte unten gegen zehn, nichts rührte sich. Also stieg ich wieder nach oben, brühte einen Tee, setzte mich an die Conti. Gegen eins verspürte ich Hunger, stieg hinab, nicht ohne erneutes vergebliches Klopfen, verzehrte in einem der zahlreichen Türkenbeisel ein Menü. Knapp vor halb drei kam ich zurück, klopfte im Vorübergehen – sofort tat sich die Tür auf zu den Worten: Willkommen – der Tee ist fertig zur gemäßen Zeit! – Hatten wir uns zum Morning- oder zum Fünfuhr-Tee verabredet? Wir frühstückten in die Dämmerung hinein, verlängerten mit einem Digestive, danach ging m. ch. an seinen Schreibtisch und ich ins Bett.

 

Vierte Erinnerung, die Dilatation der Zeit betreffend

Das Phänomen kennt man vorzüglich aus SF-Romanen: wie die Zeit für Weltraumreisende anders abläuft als für die Zurückgebliebenen. m. ch. verdanke ich das Erlebnis der Zeitdehnung, ohne daß wir von der Erde abheben mußten. Also gut, wir hatten Wien verlassen, waren in Rust auf Einladung des ORF. Tagelang verfolgten wir Hörfunkproduktionen, durchaus anstrengend, weshalb alle drei Stunden eine Pause war, die wir im benachbarten Wirtshaus verbrachten, beim vorzüglichen Storchenwein. Und nun das physikalische Phänomen, das uns heute noch erstaunt: eine Stunde nämlich beim Wirtn war nachweislich kürzer als eine Stunde vor dem Tonbandgerät, wo die Minuten wesentlich zäher vertropften...

 

Vorletzte Erinnerung, eine politische Prophetie betreffend

Diesmal ist eine genaue Datierung möglich, ja ohne dieselbe wäre dieser Vorgang  überhaupt nicht möglich, wie sich sogleich erweisen wird. Ort des Geschehens ist die Galerie chobot, von deren Urform schon die Rede ging. Anlaß war die Vernissage eines namhaften Künstlers, den ich durch meinen Freund und seine Gattin, die Galeristin Dagmar, kennenlernen konnte, und zwar Wolf Vostell. Er zeigte Fotomontagen, kostbare Kartons, die ausdrückten, wie er fasziniert, gar besessen war von Autos, Stierkampf und von Frauen. Ich war begeistert und erbat vom Künstler ein Autogramm in den Katalog, bot auch gleich hilfsbereit meinen Kugelschreiber an. Vostell hob die Hand, an der er den wuchtigen Ring des Knoblauchordens trug, mit hohepriesterlicher Gebärde wies er mein profanes Schreibgerät ab. Er führte bei sich eine Art Spazierstock, dessen Griff er jetzt aufklappte – eine kleine Palette kam zum Vorschein mit Farben und Pinsel. Er ließ ein Stamperl mit Wasser füllen, tunkte den Pinsel ein und tuschte in riesigen violetten Lettern eine Widmung: Ich stelle heute in Wien den Antrag, die Betonplatten der Berliner Mauer zu kaufen, sobald diese eingerissen wird. Für Richard Christ 30.5.89. Wer, frage ich heute, hätte zu diesem Zeitpunkt in Wien, gar in Berlin ans Einreißen der Mauer gedacht? Übrigens fand ich später, nach Vostells Tod, ein ihm gewidmetes Gedicht in „nach dirdort“ von m. ch., er erwähnt darin Vostells Palettenstock mit dem Silberknauf.

 

Letzte  Erinnerung, eine Grundfrage der Menschheit aufgreifend: Gibt es ein Leben nach dem Tode?

In wenigen Zeilen löst m. ch. (in dem oben genannten Buch) das Problem durch sein Gleichnis vom leergesoffenen Doppler: Nichts bleibt von uns, sagt er. Und entscheidet apodiktisch: „geschichten erfinde ich selbst / bittschön / die mich überleben“.
Zu so viel poetischem Selbstbewußtsein sage ich bravo, alter Freund, und weiter so, noch viele Jahre!

 

Juli 2005
Borgo Wolfgang Müller-Funk
Februar 1998
Hrdlicka und Manfred Chobot
1975
Manfred Chobot in Mödling
Chobot-Fleck Zeichnung

 

 
     
     
 
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