Ausgewählte Kritiken - Rezensionen  
 
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Rezension von „Blinder Passagier nach Petersburg“ – Karner Axel
Originalbeitrag
 
     
   
 
     
 
 
     
  Manfred Chobot  
   
 
Der Gruftspion
 

Manfred Chobot

       
   

Blinder Passagier nach Petersburg
Essays und Interviews.

     
   

Brosch.

     
   

264 S.

     
   

edition lex liszt 12, Oberwart 2009,

     
   

20,-- Euro

     
           
               
 
   
     
     
 

Manfred Chobot: Blinder Passagier nach Petersburg. Essays und Interviews. Edition lex liszt 12, Oberwart 2009; ISBN: 978-3-901757-90-7

Der vorliegende Band bisher verstreuter Chobot-Texte ist eine Sammlung von Essays, Aufsätzen, Nachrufen, Briefen und Interviews. Ob literaturwissenschaftliche Analyse, poetische Annäherung oder sensibles Gespräch, allen Texten gemeinsam ist Manfred Chobots Interesse an eigenwilligen, aber kreativ-künstlerischen Menschen mit komplizierten Lebensläufen – manche von ihnen auch Freunde und Weggefährten, die als Schriftsteller, Maler oder auch Kunstvermittler eine mehr oder weniger entscheidende Bedeutung auf seinem Lebensweg bekommen haben. Welche  außergewöhnlichen Umstände auch immer, besondere Lebenshaltungen, Zufälle oder bewusste Entscheidungen die Biographien der oft gescheiterten oder zumindest umstrittenen Personen beeinflussten, Chobots Begegnungen zeugen von einer empathischen Haltung gegenüber jedem Einzelnen und seinem Werk. Mit den „Essays und Interviews“ sind zwei – der Literatur und der bildenden Kunst gewidmete – Schwerpunkte gesetzt, zwischen denen sich auch Chobots künstlerische Existenz bewegt.
           
Entsprechend der Intention des Buches – programmatisch an den Anfang der Sammlung gestellt – ist Chobots Auseinandersetzung mit dem Schriftsteller und „blinden Passagier nach Petersburg“ Franz Jung. Er beschreibt „eine schillernde Figur mit unstetem Geist“, dessen Biographie sich wie das Drehbuch zu einem Abenteuerfilm liest. Jung, der als blinder Passagier auf der Reise nach Russland das Schiff kapert und Lenin trifft, erscheint als Mensch „spröde und widersprüchlich“. Dabei war „Kompromisse und Leisetreterei […] nicht seine Sache“. Jung: „[Wir schlossen] uns zu einer Gemeinschaft zusammen, die den Kampf aufnahm gegen bürgerliche Konvention, Krieg und Militarismus. Wir kämpften für ein neues Lebensgefühl, für die sozialistische Idee“.
Nicht weniger befremdend ist das Bild vom Menschen und Dramatiker Arnolt Bronnen. Chobot versucht in einer „poetischen Annäherung“, in einem Wechselspiel zwischen Bronnens „Autobiographie“ und Barbara Bronnens Roman „Tochter“, die Tragik und Unbegreiflichkeit eines menschlichen Chamäleons und politischen Opportunisten nachzuvollziehen. Der ursprünglich linke Autor und Freund Bertolt Brechts kollaborierte mit den Nationalsozialisten. Mit Josef Goebbels befreundet, teilte er die Geliebte und machte Karriere. Am Ende des Krieges wechselte er abermals die Seiten und wurde Widerstandskämpfer in Bad Goisern, gelangte über Linz und Wien auf Einladung Brechts in die DDR, wo seine Stücke aber nicht mehr aufgeführt wurden.
Einer, der geradezu zwischen allen Sesseln saß, ist der vergessene Reiseschriftsteller Arthur Holitscher, dessen „Reisereportagen stilistisch in einer Vermischung von Erlebtem mit recherchierten Fakten, sowie überaus treffsicheren Analysen“ erscheinen.
Den Kreis der Gescheiterten schließt der von Chobot als „unverschämter Plagiator“ bezeichnete Lyriker und Dramatiker Richard Billinger. Mit Else Lasker-Schüler 1932 geteilter Kleistpreisträger, aufgeführt an allen angesehenen deutschsprachigen Bühnen, wendet er sich nach der Machtergreifung dem Nationalsozialismus zu, schreibt das seinem sozialdemokratischen, jüdischen Kollegen Hugo Sonka gestohlene Gedicht „Erde“ nach völkischen Gesichtspunkten um, und publiziert es im „Völkischen Beobachter“ unter eigenem Namen mit dem Titel „Deutsche Erde“.

Mit dem „Wortungetümerzeuger“ Max Riccabona, dem „Lyriker und Ganzkörperpoeten“ Christian Loidlund der „Philosophin des Naheliegenden“ Christine Nöstlingerlenkt Chobot schließlich den Blick auf drei ihm sehr nahestehende, befreundete und geschätzte AutorInnen.

Die Reihe einfühlsamer Gespräche mit Persönlichkeiten der Kunst-, Kultur- und Literaturgeschichte beginnt mit dem Spanier Jorge Semprun – anlässlich der Verleihung des Bruno Kreisky Preises 2005 – über seine Rolle als Politiker und Schriftsteller. Semprun gehört zu jenen Schriftstellern, die von den politischen Leidenschaften und der Tragik des 20. Jahrhunderts erzählen. Sein Werk ist Zeugnis über Exil und Flucht, Verfolgung, Illegalität und Widerstand.  
Ein Künstler, der Ende der fünfziger Jahre durch einen neuen Kunstbegriff vor allem das Verständnis für Bildende Kunst erweitert hat, ist der in Beziehung zu „Fluxus“, Happening und Aktionskunst zu nennende Wolf Vostell. Dieser fordert, dass in der Kunst als einer „Interaktion zwischen Künstlern und Mitspielern eine Idee vorgegeben [wird]“, die diese dann realisieren sollen. Dabei steht der Künstler in einem Dilemma. Er kann sich zwar an der Realität orientieren, verdankt [aber] jedes Werk, was [er] macht, einer anonymen Schöpferdynamik“.
In einem Gespräch mit dem Psychiater Leo Navratil in Verbindung mit „Art Brut“ und seinem „Haus der Künstler“ stellt sich schließlich die Frage, wie weit die Kunst eine rein künstlerische, den Zwängen des Marktes auszusetzende Funktion hat, oder kunsttherapeutisch betrachtet, eher dazu dienen soll, psychisch kranken Menschen in Diagnose und Therapie zu helfen. Aus einem ursprünglich diagnostischen, nicht therapeutischen Zeichnen entstand die Frage: Psychose, Kreativität, Kunst.Anders als Navratil sieht sein Nachfolger Johann Feilacher die psychische Krankheit als Privatsache jedes Einzelnen und stellt in Bezug ihrer Arbeiten das Künstlertum in den Vordergrund.

Über die Synthese von Sprache und Bild sprechen die Beiträge im letzten Teil des Buches. Vornehmlich geht es um die drei Gugginger Schrift-Künstler August Walla, Johann Fischer und Johann Korec, allesamt von der Galerie Chobot vertreten. Für Manfred Chobot ist Wallas expressiver Einsatz der Schrift „ein Gespräch, ein Dialog mit dem Betrachter. [Als einer der originellsten und vielseitigsten Künstler aus Gugging griff er kreativ] in seine Umwelt ein, veränderte sie, gestaltete sie für sich neu.“ Fischers Gebrauch der Schrift ist hingegen analytisch-narrativ. Neben die Figuren gesetzt, kommen Schrift und Bild eine gleichwertige Bedeutung zu. Seine Texte sind umfangreich, stehen einerseits eigenständig und unabhängig von der Darstellung, andererseits als Erklärung und Kommentar zum Bildhaften. Korec, der Erotiker unter den drei Künstlern, verwendete seine Schrift als kalligraphisches Element. Der Reiz seiner Arbeiten […] „liegt im Kontrast zwischen der aquarellierten Zeichnung und dem skripturalen Bereich.“
Als Antipode zum Schriftsteller Franz Jung steht der Maler, Zeichner und Dichter Karl Anton Fleck. Inspiriert von der Porträtmalerei der Renaissance, Max Ernst und Graham Sutherland, erweiterte er durch Überlagerung, Verfremdung und Veränderung der Perspektive jede vorgefundene Abbildung, um „zu sehen, was sich dahinter befindet,[um] in die Tiefe [zu] dringen, bis dorthin einzudringen, was auf den ersten Blick nicht erkennbar ist.“ Bemerkenswert an dem „Mann mit den vielen Gesichtern“, von dem auch das Cover des Buches stammt, ist seine literarisch-poetische Kraft, die im Gedichtband „Hinter jedem Gesicht verbirgt sich Gott“, herausgegeben von Manfred Chobot, zum Ausdruck kommt.

Zuletzt ist noch auf einige kleinere Beiträge hinzuweisen. Ein Aufsatz über die Entwicklung und Perspektive des Hörspiels, im Spiegel Manfred Chobots umfangreicher Radioarbeit, ein Angelpunkt in seinem literarischen Schaffen, ein Porträt seiner Freundschaft mit Alfred Hrdlicka und ein Brief zu dessen achtzigstem Geburtstag, sowie eine Notiz über den Zeichner und Lebenskünstler Othmar Zechyr, dem es sogar gelang, ein Bild zweimal zu verkaufen.

Dem Leser obliegt es nunim Sinne Wolf Vostells, die Realität „nachzuentdecken oder nacherzufinden, was die Welt ihm an Substanz vormacht“, um schließlich hinter sie zu schauen. Oder wie Manfred Chobot seine Wirklichkeit umschreibt: „Kunst ist in jedem Fall, das Leben zu gestalten, ihm eine Form und einen inneren Zusammenhalt zu verleihen, sich gegen die Umwelt zu behaupten.“

Axel Karner

 
 
 
 
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