Ausgewählte Kritiken - Rezensionen  
 
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Rezension „Blinder Passagier nach Petersburg" –Riebler Eva  
„etcetera“
   
   
 
     
 
 
     
  Manfred Chobot  
   
 
Der Gruftspion
 

Manfred Chobot

       
   

Blinder Passagier nach Petersburg
Essays und Interviews.

     
   

Brosch.

     
   

264 S.

     
   

edition lex liszt 12, Oberwart 2009,

     
   

20,-- Euro

     
           
               
 
   
     
     
 

Manfred Chobot, bisher als launiger Lyriker, hervorragender Essayist und Erzähler bekannt, versammelt in diesem Werk sechzehn seiner Essays und Interviews, die in Anthologien, Zeitschriften seit 1992 erschienen oder vom ORF gesendet worden waren.
Titelgebend war die biografische Erzählung über Franz Jung (1888 – 1963), den Kommunisten, der nach Petersburg reiste, um Genosse Lenin über die revolutionäre Lage in Deutschland zu informieren und um über die Aufnahme der KAPD in die „Dritte kommunistische Internationale“ zu verhandeln. Er wird 1920 zum Schiffsentführer, später zum Autor und Wirtschaftsfachmann, der ein spannendes Leben ohne Kompromisse und Leisetreterei führt. Die politischen Wirren zwingen ihn zu zahlreichen Fluchten aus Gefängnissen und dem KZ. Abwechslung und Bewältigung von Leid ergibt sich auch im Privaten, im Tausch und Täuschen von Ehefrauen und Partnerinnen und im Nachvollzug des Mordes seiner Tochter durch die Stationsärztin während eines Bombenangriffes im II.WK.
Manfred Chobot recherchiert gekonnt und gibt dem Leser mit dem biografischen Essay über Ferdinand Bronnen vulgo Franz Adamus (1867 – 1948), seinem Sohn Arnold Bronnen (1895 – 1959), einem Vaterverweigerer, Dramaturgen und Freund Bert Brechts, sowie dem tragischen Lebensverlauf dessen Tochter Barbara einen Einblick in die psychischen und zeitgeistigen Abhängigkeiten und Verknüpfungen der Schicksale. Arnold Bronnens radikale Gesinnungsänderungen bringen ihm als Dramaturgen und Literaten viel Leid, da seine Werke und Leistung wegen seiner frühen Freundschaft und Nähe zu Goebbels (1927) oder zum Kommunismus (Aufbau der Kulturredaktion der Linzer KPÖ) später in Wien nicht anerkannt werden. So folgt er dem Ruf B. Brechts und J. R. Bechers nach Ostberlin.
Genauso spannend liest sich der Bericht über den vergessenen Autor Arthur Holitscher (1869-1941), dessen Werke 1933 verbrannt wurden und der erst mit seinen Amerika-Bänden und anderer realistischer Reiselektüre späte Erfolge feierte. Nicht erkannt wurde seine Sehergabe bezüglich Kriegsausbruch sowie Radikalisierung in Palästina durch den Zuzug polnischer, litauischer und russischer Juden.
Im vierten Essay widmet sich der Autor dem in Deutschland angesehenen Dramaturgen und Lyriker Richard Billinger (180 – 1965), der mit Else Laske-Schüler 1932 gemeinsam den Kleistpreis erhielt und dessen Bühnenausstatter zu „Rauhnacht“ Alfred Kubin war. Jedoch bereits 1933 wendete er sich vom jüdischen PEN-Club wegen seiner Erklärung zu Deutschland ab und huldigte Hitler. Er ging so weit, dem im KZ sitzenden Hugo Sonnenschein ein Gedicht zu stehlen und es ausgerechnet im „Völkischen Beobachter“ unter seinem Namen zu veröffentlichen.
Manfred Chobot weist nicht nur auf die Tatsachen hin, sondern bringt dankenswerter Weise die Originaltexte im Vergleich sowie die Quellenverweise, die diesmal u. a. zu Carl Zuckmayer führen.
In der Kurzdarstellung Max Riccabonas zeigt er uns einen Literaten, der die Assoziationsketten und neue gestalterische Kriterien liebte, ein Autor der GAV, der auf der Suche nach Wortmonstern (mostschädelbirnenschnapssodomstrip) und deren Gültigkeit war.
Berührend ist der Lebensbericht Christian Loidls (1957 – 2001), der als intelligenter, liebenswürdiger aber versponnener Germanist in den Vorstand des PODIUMS geholt wurde, die Idee des Poetry-Slams im Ausland verfolgte und mit Enthusiasmus in Niederösterreich einführen wollte. Er war seiner Zeit voraus. Drei Jahre nach seinem Tod gelang dies Thomas Fröhlich von der LitGes St. Pölten. Chrsitian Loidl liebte Lese-Performances, watschte sich selbst beim Gedicht „Hitler“ und trug seine Zeilen gegen den öffentlichen Verkehr unter dem Lärm der Wiener Stadtbahn im U-6 vor.
Dem Thema und der Aussagekraft des Hörspiels und der Kultfigur Dschi-Dsche-Wischers, gestaltet von der Kinderautorin Christine Nöstlinger, sowie dem Bruno Kreisky Preisträger und Kulturminister Spaniens, Jorge Semprún, widmen sich die folgenden Beiträge. Jorge Semprún konnte nach der Entlassung aus dem KZ Buchenwald über den Faschismus nicht schreiben, da er nicht ständig den Tod im Gedächtnis haben mochte, leistete aber sehr gerne drei Jahre lang Aufbauarbeit als Minister unter Felipe González.
Ähnlich aufschlussreich wie die Durchleuchtung der Gattung Hörspiel ist die Information, die der Leser aus dem Gespräch des Autors mit Wolf Vostell (1932 – 1998) punkto Wiener Aktionismus und Happening bezieht. Zu wesentlichen Fragen wie: Kann Kunst Moral sein? Welche gesellschaftliche Funktion hat der Künstler? Was ist und kann FLUXUS? Besitzt die Musik oder der Pop-Star Macht über das Publikum? – werden interessante Antworten geboten.
Mit Wolf Vostell beginnen die Informationen über vor allem bildende Künstler, die mit Reminiszenzen an Othmar Zechyr (1938 – 1996), dem Grafiker und Lebenskünstler und Karl Anton Fleck (1928 – 1983), einem großformatigem Akt- und Portrait-Zeichner und avantgardistischen Jazz-Schlagzeuger, fortgesetzt werden. K. A. Fleck zeichnete bereits in den 60er Jahren die Hände, den Kopf, die Figur in ungezwungener Bewegung und im Gespräch. Von ihm stammt das Coverbild des vorliegenden Werkes. Die Galerie Chobot hat nicht nur die Nutzungsrechte seines Werknachlasses, sondern verhalf ihm auch als Mitglied der Wiener Secession 2005 zu einer großen Retrospektive im Wiener Leopold Museum.
Als weitere Maler und Schrift-Künstler beleuchtet Manfred Chobot die Werke sowie auch die Zweifel oder die Verzweiflung beim Schaffensprozess von drei der bekannten und berühmten Gugginger Künstlern: August Walla, Johann Fischer und Johann Korec. Im ausführlichen Gespräch bringt der Initiator dieser einmaligen Initiative, DDr. Leo Navratil, nicht nur Hintergrundsinformation über Entstehen und Fortgang des Projektes, sondern beantwortet Fragen über das Außergewöhnliche dieser Art Brut, über den Konkurrenzkampf untereinander und die notwendigen Aufforderung zum Ausdruck in Schrift und therapeutischer Zeichnung, über nicht vorhandene Weiterbildung und über finanziellen Anerkennung für Menschen, die mit Geld und Zahlen nicht umgehen können.
Die letzte und wie die an Christian Loidl sehr persönliche Reminiszenz ist dem Freund und Bildhauer Alfred Hrdlicka zum 80. Geburtstag gewidmet und vermittelt dem Leser wiederum einen direkten Einblick mittels Aussagen und Zitate, wie: Ich war das, was man einen Ausstellungskünstler nennt. ... Mir ist allmählich auf die Nerven gegangen, dass da immer etwas arrangiert wird ... dass diese Kunst, die da in der Gegend rumsteht, nicht aussagefrei sein kann ...
Warum sich Kunst reiben soll und wie das asoziale Buch „Multiple“ mit Schmirgelpapier ausgestattet wurde, soll hier ein Geheimnis bleiben.
Kein Geheimnis ist, dass dies vorliegende Werk Chobots persönlich, individuell gestaltet und mit aufschlussreichen Zitaten (die auch stets als solche erkenntlich sind) versehen wurde, aufwändig und bestens bibliographiert und recherchiert ist. Großer Arbeitsaufwand und großes Wissen spiegeln sich auch in den Essays und den Fragestellungen der Interviews wider, die dadurch äußerst spannend zu lesen sind.
Auch für dieses Werk gilt das Zitat Hrdlickas: Die Kunst entsteht nicht im luftleeren Raum.

Eva Riebler

 
 
 
 
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