Ausgewählte Kritiken - Rezensionen  
 
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Rezension „Genie und Arschloch" – Ingrid Reichel
 
„etcetera“, Nr. 37 / 2009
   
   
 
     
 
 
     
  Manfred Chobot  
   
 
Der Gruftspion
 

Hg. Manfred Chobot:

       
   

Genie & Arschloch.
Licht- und Schattenseiten
berühmter Persönlichkeiten.

     
   

Anthologie.

     
   

Wien: Molden Verlag, 2009.

     
   

280 S.

     
   

ISBN 978-3-85485-234-6

     
           
               
 
   
     
     
 

Wer ist hier das größere Arschloch?
Der Autor Manfred Chobot lud verschiedene Autoren und Autorinnen zu einem äußerst spannenden Thema ein. Dabei mussten sie sich eine berühmte Persönlichkeit aussuchen und deren schlechte Charakterzüge durchleuchten. Was denn nun ein Genie ausmacht, oder ob ein Genie auch zwangsläufig ein Arschloch sein muss, ob womöglich einer oder eine, der oder die sich nicht arschlochmäßig benimmt, es gar nicht zum Genie bringt? Wolfgang Müller-Funk sinniert in seinem Vorwort „Das Arschloch des Genies“ über die Entzauberung des Letzteren. Ein feiner Humor weht über den Seiten. Oder ist es gar Schadenfreude? Die Conclusio auf S. 29 lautet schließlich: „Man kann ein Arschloch sein, ohne ein „wahres“ Genie zu sein. Das dürfte bei aller Vorsicht, die man im Umgang mit moralischen Urteilen walten lassen sollte, der Normalfall sein.“ Das Ende des klassischen Genie-Kults bezweifelt der bekannte Literatur- und Kulturwissenschaftler. „Mit dem Ende des Genies ist ihm jedoch eine geniale Rechtfertigung abhanden gekommen, jene stillschweigende Inanspruchnahme einer Sondermoral, die mich von jenem kategorischen Imperativ enthebt, wie er nur für die normalen, nicht-genialen Menschen gilt.“
Der Mensch lebt nicht alleine und so kann man nur durch seine unmittelbare Umgebung die tatsächliche Größe eines Genies in Zusammenhang mit seinem sozialen Verhalten wahrnehmen. Es sind die Partner, die Familien, die Freunde, die Kollegen, die Anhänger und Mäzene, die dem Kreativen seinen Schöpfungsakt erst ermöglichen. Die Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe führen zu Verlustängsten. Mit den zwischenmenschlichen Beziehungen beginnen die Rivalitäten und die Intrigen. Neid und Ellenbogentechnik sind die Folge. Ganze Regime werden zu Verratsaktionen genutzt, um Kontrahenten auszuschalten. Eine traurige Bilanz der Menschheit, besonders, wenn sie auf Menschen mit höchstem geistigen Niveau – den von der Gesellschaft ernannten Genies - zutrifft. Manfred Chobot fasste 14 wunderbare Essays zu diesem Buch zusammen.
Die Journalistin und Autorin Judith Gruber-Rizy beschreibt nicht nur die hoffnungslos leidenschaftliche Affäre zwischen Wassily Kandinsky und Gabriele Münter, sondern auch seinen Neid und die Angst vor dem Talent einer Frau, welches er zu vernichten wusste. Dass bekannteste Arschloch unter den Genies mag wohl Pablo Picasso sein. Die Literaturwissenschafterin und Kunstgeschichtlerin Erika Kronabitter konzentriert sich auf seine Familie, vorzugsweise auf die Unterdrückung, der sein Sohn Paulo ausgesetzt war und die Suizide seiner vielen Frauen. Die Musikwissenschafterin Friederike C. Raderer erklärt, dass Wagner nichts von Loyalität wusste, während der Journalist Helmut Rizy die Unkollegialität Johannes Brahms gegenüber Anton Bruckner und seinem Schüler Hans Rott ins Visier nimmt.
Die meisten ausgewählten Persönlichkeiten kommen jedoch aus dem Bereich der Schriftstellerei: über Katherine Mansfield und ihre gestörte Beziehung zu ihrer Freundin Ida Baker, sowie von den vielen gesellschaftlichen Eskapaden des intellektuellen Paares Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre klatscht und tratscht die Literaturwissenschaftlerin Charlotte Ueckert; über Ernest Hemingways Ängste und Tötungsfantasien schildert die Autorin Mechthild Podzeit-Lütjen; um die Versklavung der Frauen durch Bert Brecht geht es im Beitrag der Journalistin und Fotographien Hilde Schmölzer; Arno Schmidt wird als Hochstapler von dem Autor und Privatgelehrten Carl-Ludwig Reichert aufgedeckt; den umstrittenen Richard Billinger und seine Plagiate nimmt Herausgeber Manfred Chobot selbst unter die Lupe; während der Antisemitismus von Franz Stelzhammer Thema von Ludwig Laher ist, wagt der Rechts- und Staatswissenschafter Rolf Schwendter einen ungleichen Vergleich zwischen Arthur Rimbaud und Claire Goll, wobei er bewusst auf ihrer beiden Genius verzichtet einzugehen; von Gottfried Benns Ambivalenz gegenüber dem Faschismus weiß der Journalist Tobias Hierl zu berichten und über die Verleumdungen des Karl Valentin gegenüber dem Filmemacher Walter Jerven an die Nazis wegen eines Gagenstreits schreibt die Buch- und Hörfunkautorin Monika Dimpfl.
Bleibt nur mehr die Frage zu klären: Will ich überhaupt das Abgrundtiefe eines Menschen wissen?
Wobei man hier erwähnen muss, dass es sich in diesen Essays um keine neuen Erkenntnisse handelt. Es ist, wie besprochen, eine Sammlung von nicht nachahmungswürdigem Verhalten von Menschen, deren künstlerische Leistung wir sehr verehren und deren Fehltritte wir doch all zu gerne ausblenden. Die Frage ist also noch einmal: Wird am Ende mit dem Wissen um die teilweise unmoralischen und miserablen Umstände der Entstehung eines Werkes das Werk in seiner Genialität geschmälert?
Die Frage ist seltsamerweise leicht zu beantworten. Obwohl die moralische Antwort ein „Ja“ sein sollte, ist die reale Antwort ein „Nein“. Wir verdrängen weiterhin, buchen Billigflüge, um Pyramiden, Tempeln, Kirchen, Festungen und Schlösser in touristischen Schwärmen zu besuchen und verwerfen unser Wissen um Tod und Leid, welche damit verbunden sind. Beim Anblick der wahren Meisterwerke haben wir noch einen Stöpsel im Ohr und entspannen uns bei klassischer Musik, lesen die feinste Literatur ganz nebenbei …
Eine Anthologie, die trotz amüsantem Lesevergnügen zu einer durchaus quälenden Selbstreflexion führt.

Ingrid Reichel (LitGes, Juni 2009)

 
 
 
 
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