Ausgewählte Kritiken - Rezensionen  
 
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Rezension „Die Wunderwelt, durch die ich schwebte“ – Mario Karl Hladicz
Kultur online, 24.7.2012
 
     
   
 
     
 
 
     
  Manfred Chobot  
   
 
  Manfred Chobot        
    Die Wunderwelt, durch die ich schwebte – Literarische Träume
(mit Dieter Bandhauer)
     
    2011      
    Wien: Sonderzahl      
    200 Seiten      
   

€ 18,-

     
           
               
 
   
     
     
 

Traumhafte Bettlektüre

Seit der Antike spielen Träume in der Literatur eine nicht mehr wegzudenkende Rolle, für zahlreiche Autoren wurden und werden sie sogar zur Voraussetzung für ihre dichterische Arbeit. Jean Paul war der Überzeugung, dass Träume bei einem Dichter stärker wirken, weil dieser an Phantasien gewöhnt ist.

Er musste es wissen, waren die Romantiker um Novalis, Kleist und E.T.A. Hoffmann doch so etwas wie die ersten Traumexperten der Literatur. Träume bieten Stoff für Weltliteratur; Kafkas beklemmende Angstphantasien, angesiedelt im Grenzbereich zwischen Träumen und Wachen, lesen sich mitunter wie ein einziger langer Alptraum, Fernando Pessoa erhob in seinem Buch der Unruhe das hoffnungslose (Tag)Träumen gar zur Lebensmaxime, und die Liste namhafter Autoren, die Traumtagebuch führten, reicht von Schnitzler bis Kerouac.

Manfred Chobot und Dieter Bandhauer haben nun eine umfassende Bestandsaufnahme von literarischen Träumen durchgeführt; die Anthologie Die Wunderwelt, durch die ich schwebte, im Vorjahr im Wiener Sonderzahl Verlag erschienen, versammelt über hundert Traumtexte von überwiegend deutschsprachigen Autoren des 19. Und 20. Jahrhunderts. Dabei ist ein schönes Buch herausgekommen, das Beiträge von allbekannten Traumexperten wie Kafka, Breton oder Kubin ebenso enthält wie von österreichischen «Klassikern» und heimischen Autoren der jüngeren Generation.

Die Anordnung der unterschiedlichen Traumtexte folgt dabei einer für ein solches Traumbuch stimmigen Idee: jeweils ein Wortpaar dient als Titel für einen Traum, wobei das zweite Wort den ersten Teil des nachfolgenden Traumtitels bildet. So ist etwa das Wortpaar «schweben/Wien» Titelgeber für Walter Schmögners Traum, einem Verkehrspolizisten auf einem fliegenden Teppich davonzufliegen; darauf folgt «Wien/Kamel», worin Elfriede Gerstl vom Weg zu ihrem Wiener Therapeuten träumt, auf der Höhe Aida - Schwarzes Kamel bemerkt, dass sämtliche Hauswände aus Kuchen bestehen und sie aus Überraschung darüber prompt erwacht; Paul Scheerbart gelangt im anschließenden Traum «Kamel/Alkohol» zur lyrischen Erkenntnis: «Mit Menschen trinken ist der größte Kohl - Kamele nur verstehen den Alkohol.»

Allein ein solcher kurzer Ausschnitt mag verdeutlichen, dass dem Leser durch dieses Verfahren der thematischen Aneinanderkettung eine wilde Traumlektüre sicher ist. Rasant liest man sich durch die verschiedensten Epochen (der älteste Traum datiert aus dem Jahr 1817, der jüngste aus 2010) und Genres (Tagebuchaufzeichnung, Prosa und Lyrik), durch Wunsch- und Alpträume ebenso wie durch philosophisch-ernste oder absurd-witzige Traumtexte.

Neben unzähligen Tieren, die in allen (un)möglichen Farben und Formen durch die gesamte Sammlung schwirren, wird auffallend oft vom Krieg, noch öfter vom Tod geträumt, «der wie das erste Lächeln eines Kindes war» (Buñuel), auch absurde Folterungsszenen oder andere qualvolle Bestrafungen scheinen unter Künstlerträumen keine Seltenheit zu sein. Von dem «entsetzlichste[n] Traum, an den ich mich erinnere» weiß gar George Brecht zu berichten, der festhält: «Ich habe gerade das Abtippen dieses Traums aus meinem Notizbuch unterbrechen und mich übergeben müssen.» Aber natürlich kommen auch die typischen Schriftsteller(alp)träume nicht zu kurz; Marie-Luise Kaschnitz etwa träumt, eine Lesung zu halten und erst auf der Bühne zu bemerken, dass die Manuskripte fehlen; Herbert J. Wimmers Figur zerfließt vor dem Computerbildschirm gar zu Vanillepudding, während Friederike Mayröcker vieldeutig von «Peter H.’s Rücken» träumt - bei so viel geballter Symbolkraft hat der geneigte Traumanalyst wohl seine wahre «Freud'».

Gegen Ende des Buches überwiegt wiederum der absurde Humor, wenn Lukas Cejpek im Traum zum Hilfsfrisör wird oder Antonio Fian entdeckt, dass es sich bei seinem Verlag eigentlich um eine Speditionsfirma handelt.

Das Buch hat das Potenzial zur idealen Bettlektüre; man legt es nach ein paar Seiten auf den Nachttisch und hofft, bald selbst durch alle möglichen und unmöglichen Wunderwelten zu schweben. Vielleicht wird der ein oder andere Leser sogar dazu inspiriert, sich an die Aufzeichnung der eigenen Träume zu machen, die in unserer vermeintlich bis ins Letzte aufgeklärten Welt, in der alles unmittelbar greifbar scheint, so unendlich viel Rätselhaftes über uns zu sagen haben.

Mario Karl Hladicz

Manfred Chobot / Dieter Bandhauer (Hg.): Die Wunderwelt, durch die ich schwebte. Literarische Träume. 184 S., Hardcover, Format: 13,5 x 21 cm, Euro 18,–, ISBN 978 3 85449 356 3

 
 
 
 
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