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Rezension „Die Wunderwelt, durch die ich schwebte" – Stefan Heuer
Titel-Magazin, 07.05.2012
 
     
   
 
     
 
 
     
  Manfred Chobot  
   
 
  Manfred Chobot        
    Die Wunderwelt, durch die ich schwebte – Literarische Träume
(mit Dieter Bandhauer)
     
    2011      
    Wien: Sonderzahl      
    200 Seiten      
   

€ 18,-

     
           
               
 
   
     
     
 

Mir träumte, ich träume, und das nicht zu knapp

Geißbock, Lippenstift, Tod & Teufel und ihr nächtliches Erscheinen – Die Wunderwelt, durch die ich schwebte herausgegeben von Manfred Chobot und Dieter Bandhauer. Von STEFAN HEUER

Ähnlich wie die zumeist recht unförmigen Gebilde, die beim alljährlichen Bleigießen zu Silvester in der Wasserschale zurückbleiben, verfügt der Traum über ein schier endloses Deutungspotential. Auf diversen Internetseiten finden sich unzählige Begriffe samt der ihnen zugeschriebenen Deutungen.

Wer beispielsweise von einem Backenbart träumt, der sollte im Traum besonders auf die Färbung der Barthaare achten (hell: gute Gesundheit – grau: Traurigkeit); wer von Zuckerwatte träumt, dem steht angeblich eine schöne Reise bevor; wem im Traum ein Lippenstift erscheint, der darf sich auf eine Liebesbeziehung mit Streit einstellen. Der Geißbock (Fans des 1. FC Köln bitte aufgepasst) symbolisiert Geiz oder ausschweifende sexuelle Bedürfnisse, und wer von Zypressen träumt, sollte sich in der näheren Zukunft im Straßenverkehr lieber vorsichtig verhalten (nicht umsonst finden sich Zypressen nicht nur in der Toskana, sondern gerne auch auf Friedhöfen...).

Ich selbst habe als Jugendlicher über viele Jahre den immer gleichen Traum gehabt: eine Herde Esel, die mich eine schmale Serpentinstraße hinauftrieb, welche dann plötzlich ihr Ende fand. Für Sackgassen gibt es schlüssige Deutungen, für das Reiten auf und das Füttern von Esel auch, jedoch nicht in Kombination – bei meinem Traum mochte sich die konsultierte Therapeutin jedenfalls nicht endgültig festlegen.

Die Deutung von Träumen hat eine lange Tradition, schon seit Jahrtausenden forscht die Menschheit. Entsprechend lang ist die Liste der wissenschaftlichen Abhandlungen, von den alten Griechen bis Sigmund Freud (und inzwischen natürlich auch über ihn hinaus). Und auch in der belletristischen Literatur ist der Traum als Motiv und Wirkungsstätte des Unbewussten durchaus präsent und beliebt.

Mit Die Wunderwelt, durch die ich schwebte, erschienen 2011 im Sonderzahl-Verlag Wien, herausgegeben von Manfred Chobot und Dieter Bandhauer, ist ein weiteres Buch zum Thema dazugekommen. Auch diesem Buch, das aus der Literatur stammende Traumsequenzen vereint, ist eine kurze theoretische Einführung vorangestellt. Bevor Freud mit einem »Zu den Darstellungsmitteln des Traums« betitelten Exkurs zu Wort kommt, widmet sich Mitherausgeber Dieter Bandhauer neben anderen Aspekten vor allem der Frage nach der Glaubwürdigkeit / Authentizitätvon von Schriftstellern geschilderten Träumen – steht dem Entzücken über bis ins allerkleinste Detail ausformuliert daherkommenden Traumschilderungen doch zurecht die Befürchtung gegenüber, dass viele der niedergeschriebenen Träume für eine Druckfassung entweder erheblich aufgemotzt oder gar gänzlich bei vollem Bewusstsein ersonnen und damit keineswegs geträumt wurden.

Wie dem auch sei, und zumal sich diese These im Nachhinein eh nicht beweisen oder verhandeln lässt: Da es sich bei Die Wunderwelt, durch die ich schwebte um eine belletristische Sammlung von fixierten Träumen handelt und nicht um eine wissenschaftliche Arbeit, sind handwerklich ausgereifte und lebendige Schilderungen für den Leser ohnehin von größerer Bedeutung als der – eventuell umstrittene bzw. zweifelhafte – Wahrheitsgehalt. Und an Lesevergnügen bietet diese Anthologie so Einiges, Klassiker (wie Eduard Mörike, Charles Baudelaire, Frank Kafka, Karl Valentin oder Hugo von Hofmannsthal) wechseln sich mit zeitgenössischen AutorInnen (wie Ludwig Fels, Julietta Fix, Peter Handke, Friederike Mayröcker oder Robert Schindel) ab.

Johann Nestroy eröffnet mit seinen von Zahlen träumenden Gesellen (Und mir hat auch ein Numero traumt – es war Nr. 7359), gefolgt von H.C. Artmann, der das Zahlen-Motiv aufnimmt, um anschließend das Musizieren auf einem Cello im Herzen einer Grille als einen häufigen Traum zu beschreiben und im Verlauf seiner Schilderungen zu einer Täubchen fressenden Schlange überzuleiten. Der daran anschließende Text von Gottfried Keller ist mit »Schlange / Mutter« überschrieben, der darauf folgende (von Werner Schwab) mit »Mutter / Klo«, und spätestens jetzt wird deutlich, dass die Reihenfolge der Beiträge alles andere als zufällig gewählt, sondern vielmehr das einer Fleißarbeit beim Sichten geschuldete Ergebnis ist. Dabei sind die als Sujetkette aneinandergereihten Wortpaare oftmals exotisch und reichen von »Bühne / Krankenhaus« über »Insel / Gericht« bis hin zu »Müll / Blut«, was anzudeuten vermag, dass in den zwischen wenigen Zeilen und mehreren Druckseiten langen Träumen so Einiges passiert.

Eine gelungene, höchst abwechslungsreiche Sammlung. Und auch die liebevolle Aufmachung soll nicht unter den Tisch fallen: leinengebunden, mit Tiefenprägung und Schmuckaufkleber, mit Gemälde-Reproduktionen verzierte Innenumschläge, Lesebändchen, griffig-raues Papier für angenehme Haptik.

Bezogen auf den Inhalt scheint der Titel des Buches fast ein wenig zu kitschig, zu harmonisch zu sein, denn viele der hier versammelten Träume sind keineswegs harmonisch, sondern ekelig, misanthropisch, obszön bis erotisch, naturgemäß nicht selten surreal, gezeichnet von Kriegs-, Todes-, Versagens- und Verlustängsten. Und: So individuell so ein Traum auch sein mag, so sehr er sich auch auf Erlebtes und Erfahrenes, auf persönliche Begegnungen und Eindrücke, auf bekannte Personen und vertraute Orte beziehen mag – in so einigen der hier geschilderten Träume finde ich mich wieder. Lediglich mit meinem Traum, von Eseln eine Straße hinaufgejagt zu werden, stehe ich scheinbar alleine da. Aber vielleicht hat das auch einfach niemand aufgeschrieben...

Stefan Heuer

 
 
 
 
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